Das schöpferische Prinzip in der Kunst

In seinem Artikel „Vom Wesen des Moralischen“, den wir in der vorliegenden Ibykus-Ausgabe abdrucken, untersucht Lyndon LaRouche die Frage der „kulturellen Faktoren“, welche für den wissenschaftlichen, technologischen und moralischen Fortschritt der Menschheit bestimmend sind. Wenn es im Laufe der Geschichte der menschlichen Zivilisation zu Aufstieg und Zerfall menschlicher Gesellschaften und Kulturen kam, dann lag die Ursache – so LaRouche – in der diese Kulturen (Römisches Reich, Mesopotamien, Azteken) prägenden „oligarchischen“ Sicht des Menschen und der Gesellschaft. Genau aus diesem Grunde sieht LaRouche das Studium von Schillers „Ästhetischer Erziehung des Menschen“ als unerläßlich an. In diesem Werk, das Schiller 1795 verfaßte, zeigt Schiller die „ontologischen Implikationen“ einer an den klassischen Prinzipien der Kunst ausgerichteten Erziehung auf.

Schiller untersucht in diesem Werk die Frage, wie es zu Aufstieg und Zerfall der menschlichen Zivilisation kam. Wie zum Beispiel war es möglich, so fragt Schiller, daß trotz der einmaligen historischen Chance, welche sich zum Zeitpunkt der Französischen Revolution für Europa bot, nämlich den Traum der Menschheit zu erfüllen und eine an den Prinzipien der amerikanischen Verfassung ausgerichtete Republik mit den unveräußerlichen Rechten für alle Menschen zu bauen, diese Chance verpaßt wurde und der große historische Moment eine emotionell unempfängliche Gesellschaft vorfand?

Ursache für das mangelnde „moralische“ Vermögen des Menschen, selbstbewußt in die Geschichte einzugreifen und an bereits positiv existierenden Verfassungsmodellen anzuknüpfen, ist nach Schiller der Mangel an Kultur und Erziehung. Während sich uns in den niederen Klassen „rohe gesetzlose Triebe dar(stellen), die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen… geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigeren Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist“.

Wie kann man aber unter barbarischen Bedingungen den Menschen für die großen Fragen der Menschheit empfänglich machen? Eine Frage, die damals wie heute hochaktuell ist. Sollen seine Kräfte, sein Denken und seine Emotion harmonisch zusammenstimmen, so gibt es nach Schiller dafür keine andere Quelle als die klassische Kultur. Denn erst durch die ästhetische Erfahrung der „Schönheit“ eines Kunstwerks wird die schöpferische Kraft im Menschen angeregt.

Schiller unterscheidet drei Ebenen des Denkens, welche bei der Hervorbringung einer schöpferischen Idee, der „Schönheit“ eines Kunstwerks, bestimmend sind: Den „sinnlichen Trieb“, den „Formtrieb“ und den „Spieltrieb“.

In der Auseinandersetzung mit der Welt und dem Universum wird der Mensch mit der Realität und der Gesamtheit der menschlichen Geschichte sowie geschichtlichen Ereignissen konfrontiert, die ihn zum Handeln drängen. Schiller bezeichnet diesen Trieb des Menschen, der sowohl die Realität sinnlich empfängt und verarbeitet wie auch gestaltend in das Leben eingreift, als „sinnlichen Trieb.“

Es gibt keine schöpferische neue Idee ohne den „sinnlichen Trieb“; Schiller nennt ihn ein „erfülltes Moment der Zeit“. Auf der anderen Seite gesellt sich diesem „sinnlichen Trieb“ der „Formtrieb“ hinzu. Er ist das, womit der Mensch seinen Ideen wirklich Gestalt und Ausdruck verleiht. Vergleichbar mit der Arbeit eines Komponisten an einer großen Komposition, welche innere Einheit bei größtmöglicher Freiheit der Entwicklung verlangt. „So streng wie frei“, nannte Beethoven dieses Gestaltungsprinzip.

Während der sinnliche Trieb Leben und der Formtrieb Gestalt verleiht, gibt es noch eine dritte Ebene des Denkens. Wie Schiller im 15. Ästhetischen Brief darlegt, ist diese Ebene das, was die schöpferische Spannung erzeugt und eine höhere Ordnung des Geistes darstellt. Schiller nennt ihn den „Spieltrieb“, das Wesen der schöpferischen Vernunft: „Der Gegenstand des ,sinnlichen Triebes‘, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des ,Formtriebs‘, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des ,Spieltriebes‘, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also ,lebende‘ Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung ,Schönheit‘ nennt, zur Bezeichnung dient.“

Für Schiller ist der Moment der schöpferischen Hervorbringung der Schönheit im Kunstwerk etwas, was sich nicht konkret in Worte fassen läßt. Vage andeutend spricht er im 19. Brief davon, daß es sich dabei um etwas „Dazwischen“, ein „Aktual Unendliches“ handelt: „Dadurch aber, daß wir die Bestandteile anzugeben wissen, die in ihrer Vereinigung die Schönheit hervorbringen, ist die Genesis derselben auf keine Weise noch erklärt; denn dazu würde erfordert, daß man jene Vereinigung selbst begriffe, die uns, wie überhaupt alle ,Wechselwirkung zwischen dem Endlichen und Unendlichen‘ unerforschlich bleibt.“

Mit der Schönheit spielen ist eine Qualität, welche einzig dem Menschen als vernunftbegabtem Wesen der Schöpfung zukommt: „Der Mensch (soll) mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn um es endlich auf einmal zu herauszusagen. Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Schöpferisches Gestalten setzt spielerisches Denken voraus, welches sich nicht ängstlich an vorgefaßte Meinungen und Axiome klammert, sondern kühn in das „Unbekannte“ vordringt und gesetzmäßige Veränderung zum Leitfaden schöpferischen Gestaltens erhebt.

Der Mensch als „imago Dei“ ist somit das einzige Geschöpf des Universums, das in der Lage ist, die Grenzen der sinnlichen und formalen Notwendigkeit zu durchbrechen und neue Gesetze, neue Freiheitsgrade zu entdecken. Nur durch das Spielen mit der Schönheit – dem geistigen Nachvollziehen der Ideen großer Kunst wird der Mensch befähigt, „Freiheit zu geben durch Freiheit“. Für Schiller ist dies das Grundgesetz des ästhetischen Bildungstriebes und der großen klassischen Kunst. Ohne sie gibt es keinen gerechten Staat, kein harmonisches Zusammenleben der Bürger untereinander und keine Begeisterung im Einzelnen, am Bau des Staates mitzuwirken. „Die Schönheit allein kann dem Mensch geselligen Charakter erteilen… Das Schöne allein genießen wir als Individuum und als Gattung zugleich d. h. als Repräsentanten der Gattung„.

An Schillers Werk anknüpfend zeigt LaRouche anhand der Werke der klassischen Dichtung und Musikkompositionen, daß Fortschritt nur möglich ist auf Grundlage des „schöpferischen Prinzips“, welches das Wesen aller großen klassischen Kunst seit der Antike ausmacht. Ob es sich um die Dichtungen und Tragödien von Aischylos, Shakespeare oder Schiller oder um die großen klassischen Kompositionen Bachs, Haydns, Mozarts, Beethovens und Brahms‘ handelt, sämtliche der großen klassischen Kompositionen, so zeigt LaRouche, beruhten auf dem Prinzip der „Veränderung“, auf der Idee der „motivischen Durchkomponierung“. Eine in Keimform vorgetragene „musikalische Idee“ wird im Gesamten der Komposition durchkomponiert, verändert und zu einer höheren Hypothese verdichtet. Analog zur Mathematik könnte man sämtliche großen Werke der klassischen Musik von Bach bis Brahms als eine Aufeinanderfolge immer komplexerer, höherer Mannigfaltigkeiten bezeichnen.

Die vorliegenden musikalischen Beiträge stellen eine Ergänzung und Illustration zu LaRouches Artikel „Vom Wesen des Moralischen“ dar. Sie wurden ursprünglich als Teil eines umfangreichen Anhangs zu LaRouches Artikel mit 8 Einzelstudien über die Entwicklung der Motivführung in der klassischen Komposition im Sommer 1998 in dem Magazin EIR veröffentlicht. Sämtliche dieser Studien geben einen detaillierten Einblick in die Kompositionsprinzipien der Motivführung von Bach bis Brahms. In der ungekürzten englischsprachigen Version wurde in der 80 Seiten umfassenden Darstellung anhand von 100 Musikbeispielen diese Entwicklung illustriert. In dieser Ibykus-Ausgabe konnte nur eine beispielhafte Auswahl dieses „Anhangs“ aufgenommen werden, um die grundlegenden Prinzipien der Motivführung darzulegen.

Ludwig van Beethoven hat wie kein anderer Komponist die Idee der Motivführung zu höchster Vollendung gebracht. Dabei ragen vor allem seine als Einheit konzipierten späten Streichquartette (op. 127–135) hervor, in denen Beethoven auf den Errungenschaften Bachs, Haydns und Mozarts aufbauend in völlig neue musikalische Dimensionen vorstößt. Hier herrscht keine Willkür, sondern höchste Gesetzmäßigkeit bei größtmöglicher Freiheit.

In seinem Tagebuch, welches Beethoven in der turbulenten Zeit von 1814–1818 führte, als mit dem Wiener Kongreß alle Hoffnungen der Republikaner auf eine freiheitliche Ordnung in Europa zerstört wurde, findet man einen Eintrag, wo der Komponist auf die Quelle der Inspiration seines Schaffens hinweist: „So mögen die letzten Tage verfließen – und der künftigen Menschheit. Händel, Bach, Gluck, Mozart, Haydns Portraite in meinem Zimmer – Sie können mir auf Duldung Anspruch machen helfen. – Um nur nächst vom Vergangenen man was werden wollte, so hat das Vergangene doch das Gegenwärtige hervorgebracht.“