Ein Gespräch mit dem Leonardo-Experten Dr. Carlo Bertelli

„Die Funktionsweise der Natur verstehen und dies in die Malerei übertragen“


Dr. Carlo Bertelli ist als ehemaliger Leiter der Mailänder Pinakothek und ehemaliger Inspekteur des Zentralinstituts für Restaurierungen in Rom führender Leonardo da Vinci-Experte. Er war maßgeblich beteiligt an der Konzipierung der Restaurierungsarbeiten an Leonardos Abendmahl. Das folgende Gespräch führte Leonardo Servadio für Ibykus.


Als Begründer der modernen Wissenschaft gilt heute Galileo Galilei, aber wäre es nicht richtiger, das Werk Leonardo da Vincis als Grundstein der heutigen Wissenschaft zu betrachten?

Galileos Aktivität ist mathematisch ausgerichtet. Ihm ging es darum, Gegenstände und Bewegungen zu messen und Experimente so durchzuführen, daß sie präzise und fehlerfrei reproduzierbar waren. Für Galileo ist die Mathematik ein logisches Prinzip – Leonardo benutzte sie nur, um zu messen. Galileo forschte nach linearen und regelmäßigen Erscheinungen; er versuchte Regeln zu finden, welche dem Universum zugrundeliegen.

Leonardo schaut nicht nach universell funktionalen Regeln: Er operiert „innerhalb“ der Erscheinungen. Nehmen wir ein Beispiel aus Leonardos anatomischen Manuskripten: „Wenn der Rücken gerade ist, kannst du immer eine Beziehung zwischen Brustmuskeln und Rücken finden…“, d. h. wenn der Rücken gerade ist, liegt das Schulterblatt in der gleichen Höhe wie die Brustmuskeln.“ Von einer spezifischen Beobachtung leitet Leonardo eine Regel ab, die abhängig von dem Ziel, das er kurzfristig im Auge hat, vorübergehend gilt. Sein eigentliches Ziel ist jedoch, die Funktionsweise der Natur zu verstehen und dies dann in die Malerei zu übertragen.

Leonardo beobachtet, „daß es eine Kraft gibt, die in der Natur agiert“. Er ist ständig darum bemüht, zu erklären, was er in der Natur beobachtet. Aber er erreicht niemals die wissenschaftliche Strenge, die nötig ist, um empirisch nachprüfbare universelle Gesetze zu formulieren.

Leonardo liebte es, Vergleiche anzustellen – zum Beispiel zwischen dem menschlichen Fuß und der Pranke eines Bären. Es handelt sich um Forschungen eines genialischen Geistes, eines rationalen Denkers mit einer sehr ausgeprägten künstlerischen Ausrichtung. Er ist aber kein Wissenschaftler, dem es darum geht, abstrakte und replizierbare Regeln aufzustellen.

Leonardos Felsenzeichnungen und seine Schriften zu diesem Thema zeigen einen Forscher, dem es darum ging, den Ursachen der Dinge auf den Grund zu gehen.

Unter den Zeichnungen aus der zweiten Mailänder Periode Leonardos befinden sich Bilder, in denen eine Sintflut dargestellt wird. Man kann dies interpretieren als Ankündigung der künftigen Zerstörung der Welt oder aber auch als eine Hypothese, wie die Welt erzeugt wurde und wie sie sich wieder auflösen wird. Als er den Berg Grigna bestieg und dort fossile Muschelschalen fand, fragte er sich, wie es zu dieser geologischen Formation gekommen sein mochte.

In seinen Zeichnungen sieht man genau, wie sein künstlerischer Verstand arbeitet. Er benutzt ein sehr schönes Bild von dem Menschen, der in die Höhle eintritt, um Wissen zu erlangen. Er ist eine Art Visionär. Zum Beispiel entwarf er einen Plan für den Bau eines 300 Meter hohen Turms für das Mailänder Schloß: eine völlig unrealistische Idee, da man mit den Materialien, die man damals verwendete, gar keinen Turm von dieser Höhe bauen konnte.

In verschiedenen seiner Schriften werden auch Hinweise auf technische Studien gemacht…

Er studierte vor allem den Gebrauch von Kurbeln – um das Wasser in dem ausgedehnten Kanalsystem, das seit dem Mittelalter rund um Mailand existierte, besser zu kontrollieren. Leonardo arbeitete vor allem am Ausbau der Staustufen am Martesana-Kanal. Es ist überraschend zu sehen, wie intensiv er die Dynamik des Wassers studierte, nicht jedoch die Dynamik des Windes. Dabei gab es zu seiner Zeit in Holland sehr beeindruckende Windmühlen.

Er entwarf und zeichnete sehr viele Pläne für den Bau von Maschinen. War das zu seiner Zeit üblich?

Kürzlich gab es in Siena eine Ausstellung unter dem Titel Vor Leonardo. Darin wurden verschiedene Maschinen ausgestellt, die im 15. Jahrhundert in Siena entworfen wurden. Es gab verschiedene Leute, die Maschinen zeichneten. Zum Beispiel war Mariano Taccola ein solcher Erfinder von Maschinen, die man jedoch manchmal gar nicht bauen konnte. Ohne Zweifel gab es an den Höfen Italiens Leute, die die Forschung in diese Richtung förderten. Man fühlte sich herausgefordert, das Undenkbare auszuprobieren und zu erfinden. Voltario zeichnete eine ganze Reihe von Kriegsmaschinen. Ebenso Leonardo, der sich bei seinen Entwürfen von der Lektüre Frontinos und dessen Zeichnungen leiten ließ.

Warum so viele Maschinenentwürfe gemacht wurden, hängt damit zusammen, daß die kleinen italienischen Höfe versuchten, technische Lösungen zu finden, mit denen man aus Kostengründen den Einsatz von Soldaten reduzieren konnte. Sie wollten menschliche „Intelligenz“ als militärische Kraft benutzen.

In einem Brief an Ludovico il Moro schrieb Leonardo, er könne Kanonen und Maschinen bauen. Das war an den verschiedenen Höfen Italiens sehr begehrt. Wir müssen uns klarmachen, daß Leonardos Aktivitäten während seines Aufenthalts in Mailand sehr vielfältig und von Unterbrechungen gekennzeichnet waren. Er konnte sich oft nicht konzentrieren, weil er immer wieder mit neuen Aufgaben konfrontiert wurde. Seine Arbeit am Abendmahl wurde ständig unterbrochen: So gab man ihm den Auftrag, das große Pferd zu schaffen, was er dann geplant, aber nie wirklich gebaut hat. Oder er sollte Kriegsmaschinen bauen, weil Italien damals Angst vor einer Invasion der Moslems hatte. Er selbst tendierte dazu, an mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Während er am Ausbau des Martesana-Kanals arbeitete, bestieg er den Berg Grigna und beschloß dort, seine geologischen Studien zu beginnen.

Hatte Leonardo eine besondere Methode?

Es ist für uns schwierig zu verstehen, wie er operierte, um seine Beobachtungen in Bilder umzusetzen. Wenn er Wasserbewegung beobachtete, merkte er an, daß Wasser sich wie Luft bewegt und Luft wie Wasser. Es liebte es, Vergleiche anzustellen. Er wollte Abhandlungen schreiben, machte sich ständig Notizen und Skizzenentwürfe.

Ist es denkbar, daß noch irgendwelche neuen Schriften Leonardos entdeckt werden?

Noch vor 25 Jahren wurden in Madrid zwei bis dahin unbekannte Schriften Leonardos entdeckt. Sie enthielten verschiedene Notizen, die er mit der Absicht gemacht haben muß, eine neue Abhandlung über das Wasser zu schreiben. Es ist möglich, daß es noch immer unbekannte Schriften Leonardos gibt – nicht notwendigerweise komplette Abhandlungen. Neben dem Codex Madrid gibt es den aus dem Erbe von Melzi stammenden Codex Atlanticus, der sich später in der Ambrosianischen Bibliothek befand. Der Besitz von Carlo Urbani ging verloren. Dann haben wir den Codex Hammer, der ein lange Liste mit italienischen und lateinischen Worten enthält, was darauf hinweist, wie sehr Leonardo sich bemühte, diese Sprache zu meistern.

Warum denken Sie, hat Leonardo solch eigenartige Felsformationen gemalt, die vom Standpunkt der Statik so gar nicht möglich sind, wie zum Beispiel die Felsengrottenmadonna?

Die Idee einer überhängenden Landschaft ist typisch für die Florentiner. Betrachten Sie Leonardos Zeichnung einer Landschaft aus dem Jahre 1473. Dort sehen Sie rohe Natur und gepflügte Felder nebeneinander: Es ist das Bild des Gegensatzes zwischen einer nicht beherrschbaren Natur und der Anwesenheit des Menschen. Es handelt sich um ein theologisches Konzept: der Idee, daß mit der Fleischwerdung der Schöpfer zur Erde zurückkehrte, um nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur, die ganze Schöpfung, zu erlösen.

Man sieht dasselbe Denken in dem unvollendeten Werk Die Anbetung der Könige. Da nach der antiken Tradition das Auftauchen des Kometen günstigen oder ungünstigen Ereignissen entsprach, sieht man im Hintergrund den Kampf der Reiter. Es handelt sich um etwas, was offensichtlich nichts mit der Anbetung zu tun hat, und die Könige sind völlig verwirrt angesichts des Ereignisses. Die Natur ist Teil der Geschichte des Menschen. Und das Konzept von der Zeitlichkeit des menschlichen Lebens ist damit eng verknüpft. Es ist die Idee, daß sich die Erde in einem kontinuierlichen Transformationsprozeß befindet. In der Felsengrottenmadonna sind Menschen so gemalt, als befänden sie sich in einem ausgetrockneten Flußbett. Leonardo hat definitiv ein Konzept kontinuierlicher Bewegung. Es gibt nichts Fixes – das einzig kontinuierliche ist der Prozeß der Veränderung. Der Mensch ist gemäß der Auffassung Leonardos derjenige, der in das Universum Ordnung bringt, und diese Aktivität ist eine Folge seiner künstlerischen Intuition, und nicht so sehr Folge des Verstandes.

Sie haben die erste Phase der Restaurierungsarbeiten am Abendmahl geleitet. Was sind Ihre Gedanken zu diesem Projekt?

Ich habe die Restaurierung begonnen, sie jedoch nicht vollendet. Man muß das Gemälde in Bezug auf den Raum sehen, in dem es gemalt wurde. Es befindet sich im ehemaligen Speisesaal des Dominikanerklosters. Als Leonardo das Abendmahl malte, stand dieses Werk in einer ambivalenten Beziehung zu dem Raum.

Ich hätte gerne die ursprüngliche Farbe und die Lichtverhältnisse zwischen Gemälde und Decke beibehalten: Diese hatte eine dunklere Farbe als die, die sie jetzt nach der Restaurierung hat. Ursprünglich war sie als Sternenhimmel gemalt. Ein anderes wichtiges Element, das den ursprünglichen Raum verletzt, ist die Tür direkt in der Mitte des Tisches vom Abendmahl. Diese Tür, die man beibehalten hat, bricht die Kontinuität des Gemäldes. Sie war nicht vorhanden, als Leonardo an dem Werk arbeitete.

Dann haben wir das Problem der beiden Säulen, die an den beiden Seiten das Abendmahls gemalt sind: Es ist nicht klar, ob sie eine quadratische oder eine rechteckige Basis haben. Das ist von Bedeutung für die von Leo Steinberg aufgestellte Hypothese. Danach sollte man das Abendmahl als Apsis einer Kirche betrachten – die Apsis der Kirche, in der die Eucharistie eingesetzt wird. Hier liegt die Ambiguität im Verhältnis zwischen Gemälde und Raum. Die Ambiguität ist künstlerisch fruchtbar und leitet die Menschen zur Betrachtung und Reflexion. Diese Ambiguität hätte man besser demonstrieren können, als es mit der nun zu Ende gebrachten Restaurierung geschah.