Editorial

Als im Juni 1981 das erste Heft des Ibykus erschien, schrieb Helga Zepp-LaRouche, die heutige Präsidentin des Schiller-Instituts, in ihrem Editorial:

„Eine Zeitschrift wie Ibykus wird in der Bundesrepublik dringend gebraucht. Es gibt zwar ohne Zweifel Unmengen von Publikationen aller Art, aber keine, die sich in der nötigen Weise mit der Entwicklung der positiven Konzepte für die Gestaltung unseres Lebens, unseres Staates oder unserer Epoche beschäftigen würde.

Ibykus soll beweisen, daß es gerade in unserer modernen Zeit, gerade aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts möglich ist, zu einer Weltanschauung zu gelangen, gültige Werte zu erkennen und die Frage der Staatskunst, Wissenschaft und Poesie von einem ebenso einheitlichen Standpunkt zu betrachten, wie das für Plato oder Leibniz selbstverständlich war. Wir werden versuchen, zumindest eine stattliche Auswahl der besten Köpfe unserer Zeit als Mitarbeiter zu gewinnen, ganz wie Friedrich Schiller oder von Cotta das mit ihren Publikationen intendierten oder wie die Crellesche Zeitung im naturwissenschaftlichen Bereich wichtigen Schriften zur Veröffentlichung verhalf.“

In den 16 Jahren, die seither vergangen sind, gehören neben zahlreichen Aufsätzen besonders die Gespräche mit bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten zu den wertvollsten Erfolgen dieser Arbeit. Zu den Interview-Partnern gehörten die Pianisten Andras Schiff, Conrad Hansen und Günther Ludwig, das Beaux Arts Trio, der Trompeter Ludwig Güttler, der Leiter des Leipziger Thomanerchors Georg Christian Biller sowie die Sänger Elisabeth Schwarzkopf, Peter Schreier, Edda Moser, Gertrude Pitzinger, Kurt Moll, Hermann Prey, Luciano Pavarotti, Grace Bumbry, Renato Bruson, Piero Cappuccilli, Renata Tebaldi, Montserrat Caballe, Leo Nucci und viele andere. Viele Sänger – neben Instrumentalisten und Dirigenten – unterstützten die Kampagne des Schiller-Instituts für die Rückkehr zur wissenschaftlichen Verdi-Stimmung c’= 256 Hz (a’= 430).

Hervor ragen die Interviews mit dem Primarius des legendären Amadeus-Quartetts Prof. Norbert Brainin, der u. a. mit seinen Konzerten in der Verdi-Stimmung gemeinsam mit dem Pianisten Prof. Günter Ludwig einen bedeutsamen Beitrag für die kulturelle Debatte der jüngeren Zeit geleistet hat; auch das vom Schiller-Institut veranstaltete Konzert der beiden Künstler Ende 1989 in Berlin zur Feier des Mauerfalls bleibt unvergessen.

Immer wieder war die Botschaft dieser Künstler im Kern dieselbe: Es gilt den Menschen mit der Kunst zu erheben, ihn zu veredeln, und dies umso mehr, je barbarischer das gesellschaftliche Umfeld wird. Dies setzt aber voraus, daß über die „Kunstgesetze“, die Frage, wie große Kunst hervorgebracht wird, Selbstbewußtsein besteht.

So meinte Prof. Brainin in einem Interview 1989: „Das wichtigste für einen Künstler ist die Freiheit, und zwar auf der Basis der europäischen Kultur, in der jüdisch-christlichen Tradition. Diese Tradition, die in der Geschichte einen ungeheuren Fortschritt ermöglicht hat, lebendig zu erhalten und an seine Zuhörer und Schüler weiterzugeben, das ist die tag-tägliche Arbeit des Künstlers. Und weil die klassische Kultur mit Kommunismus nicht nur nichts zu tun hat, sondern diesem, wie jedem totalitären System, sogar total entgegengesetzt ist, waren und sind wir Träger dieser Kultur die natürlichen Verbündeten der Freiheitsbewegungen… Gerade in Zeiten wie heute ist es wichtig, daß sich möglichst jeder mit Schiller und Beethoven identifiziert.“

Die Sängerin Prof. Elisabeth Schwarzkopf bedauerte in einem Gespräch mit Ibykus 1986 die Oberflächlichkeit junger Künstler und Sänger, den Mangel an poetischer Grundstimmung bei der Erarbeitung eines künstlerischen Werks:

„Was den jungen Leuten heute unter dem Namen Kunst vorgesetzt wird, und was sie dann auch einer Droge gleich, immer wieder hören wollen, hat doch mit Kultur nicht mehr das geringste zu tun. Es wird alles in die unsäglichsten Abgründe gezerrt und ist oft der reine Wahnsinn. (…) Viele junge Sänger überdauern heutzutage knapp drei Jahre – siehe ,Wegwerfgesellschaft‘. Früher ,schafften‘ die Sänger ungefähr 30 Jahre; heute müssen junge Sänger zum Beispiel wegen mangelnden Budgets an den Opernhäusern Partien aus den verschiedensten Fächern singen – keine Rede mehr von einer Entwicklung oder von einem ,reifen lassen‘. (…)

Wie oft bitte ich die Sänger in der Verzweiflung, einmal diese oder jene Zeile mit Ausdruck zu sprechen. Nichts – es kommt dann ein Papperlapapp wie von einem 12-jährigen Schulkind. Und dann wollen die Menschen Lieder singen. Da besteht doch ein geradezu tragischer Irrtum, um was es sich eigentlich handelt. Dabei versuche ich wirklich auf jede erdenkliche Weise die Vorstellungskraft dieser jungen Sänger ,anzufeuern‘ – trotzdem ist da dieser Vorhang vor dem poetischen Empfinden.“

Der Bassist Kurt Moll unterstrich 1988: Neben aller Technik ist „das Wichtigste eigentlich die persönliche innere Einstellung zum Gesange. Ich meine damit, daß der Sänger sich nicht selbst darstellen darf in dem Sinne, daß er sich an die Rampe stellt und mehr oder weniger schöne Töne produziert und sagt: So jetzt habe ich euch ein hohes C gesungen. Dafür bekomme ich eine Menge Geld. Alles andere interessiert mich nicht. (…) Als Sänger muß ich etwas über die Komposition, den Komponisten, den literarischen Hintergrund und noch vieles mehr wissen, um so zu singen.“

Die kürzlich verstorbene große Altistin Gertrude Pitzinger meinte 1989:

„Auch lesen die jungen Leute keine Gedichte mehr, sie finden das wohl zu altmodisch. Aber wie kann man Lieder singen, ohne sich vorher das Gedicht zu eigen gemacht zu haben? Denn die Komponisten haben sich doch auch erst lange mit den Gedichten beschäftigt: Hugo Wolf hat sie zunächst tagelang, ja wochenlang auswendig gelernt, bevor er sie vertont hat. Und wie wird Schubert sich über jedes neue Gedicht gefreut haben? Ich glaube, ich hatte da viel mehr Glück, ich las Gedichte schon in meiner frühesten Jugend. Und wenn ich in Leipzig im Gewandhaus im Konzert war, war ich jedes Mal Gast im Hause Kippenberg oder Brockhaus. Wie schön war es, in der Goethe-Sammlung des Insel-Verlegers Kippenberg zu schmökern. Wie herrlich, Originalbriefe Schillers oder anderer großer Menschen in die Hand nehmen zu dürfen.“

In dieser Ausgabe setzt sich Ibykus mit dem Poesie- und Musikverständnis Beethovens und Schillers auseinander: Einmal anhand des Vergleichs zwischen Beethovens Oper Leonore von 1806 und der zweiten Fassung Fidelio von 1814. Eine interessante Frage ist dabei, inwieweit Beethoven bei der Abfassung zum Beispiel der großen Leonoren- und Florestan-Arien wesentliche Ideen Schillers vorgeschwebt haben mögen. Zum anderen anhand einiger Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, die Einblick in den Entstehungsprozeß der Ballade Die Kraniche des Ibykus geben.

Wenngleich es zwischen Beethoven und Schiller weder ein direktes Treffen noch eine persönliche Korrespondenz gab – eine indirekte Verbindung existierte über Beethovens Bonner Freundeskreis –, bestand zwischen beiden dennoch eine enge geistige Beziehung. Beide waren der Überzeugung, daß die Kunst der Erziehung und Vervollkommnung der Menschheit dienen sollte und auch Ausdruck moralischer Ideen sein müsse.

Aufschlußreich sind die Gedanken Schillers und Beethovens über die Bedeutung des Poetischen in der Musik und über die „musikalische Grundstimmung“ beim schöpferischen Akt. Am 22.5.1792 schreibt Schiller: „Das Musikalische eines Gedichts schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin.“ Und in einem weiteren Brief an Goethe vom 18.3.1796: „Bei mir ist die Empfindung ohne bestimmten Gegenstand, dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Grundstimmung geht vorher und auf diese folgt erst die poetische Idee.“ Beethoven berichtet über seine kompositorische Methode: „Ich verändere manches, verwerfe und versuche aufs neue so lange, bis ich damit zufrieden bin; dann aber beginnt in meinem Kopfe die Verarbeitung in die Breite, in die Enge, Höhe und Tiefe und da ich mir bewußt bin, was ich will, so verläßt mich die zu Grunde liegende Idee niemals, sie steigt, sie wächst empor, ich höre und sehe das Bild in seiner ganzen Ausdehnung, wie in einem Gusse vor meinem Geiste stehen.“

Und am 17. Juli 1812 schrieb Beethoven an die achtjährige Klavierspielerin Emilie M. aus Hamburg: „Fahre fort, übe nicht allein die Kunst, sondern dringe auch in ihr Inneres; sie verdient es, denn nur die Kunst und die Wissenschaft erhöhen den Menschen bis zur Gottheit. Solltest Du, meine liebe Emilie, einmal etwas wünschen, so schreibe mir zuversichtlich. Der wahre Künstler hat keinen Stolz; leider sieht er, daß die Kunst keine Gränzen hat, er fühlt dunkel, wie weit er vom Ziele entfernt ist und indeß er vielleicht von Andern bewundert wird, trauert er, noch nicht dahin gekommen zu sein, wohin ihm der bessere Genius nur wie eine ferne Sonne vorleuchtet. Vielleicht würde ich viel lieber zu Dir, zu den Deinigen kommen, als zu manchem Reichen, bei dem sich die Armuth des Inneren verräth. Sollte ich einst nach H. kommen, so komme ich zu Dir, zu den Deinen; ich kenne keine anderen Vorzüge des Menschen als diejenigen, welche ihn zu den besseren Menschen zählen machen; wo ich diese finde, dort ist meine Heimath.“