Editorial

Wenige Monate nach Ausbruch des Irakkrieges ist international eine große Debatte über die Motive entbrannt, die zu diesem Krieg führten. Untersuchungskommissionen in Großbritannien und den USA haben nachgewiesen, daß sowohl der britische Premierminister Blair, als auch die von Cheney angeführte Kriegsfraktion in der Bush Administration bewußt Fehlinformationen über angebliche Massenvernichtungswaffen im Iraq verbreitet hätten, um die nötige internationale Unterstützung für diesen schmutzigen Krieg gegen den Irak zu erhalten.

Nun aber beginnt die Front der Koalitionswilligen zu bröckeln. Immer häufiger wird dabei die Frage nach der besonderen Rolle von US Vizepräsident Cheney gestellt, der trotz erdrückender Gegenbeweise seitens der US Nachrichtendienste beharrlich an der Lüge festhält, daß Saddam Hussein hinter den Anschlägen des 11. September stehe, daß sehr bald Beweise für Iraks Massenvernichtungswaffen gefunden würden und die US-Armee als Befreier im Irak gefeiert werde.

Cheney ist der Chefideologe, unter dessen maßgeblichem Einfluß die neue Präventivdoktrin der USA ausgearbeitet wurde. Diese neue Militärdoktrin stellt einen tiefgreifenden „paradigmatischen“ Wandel dar. Zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges behält sich die USA das Recht vor, offensiv, bzw. präventiv mit nuklearen Waffen gegen unliebsame Gegner – sprich Schurkenstaaten – vorzugehen, selbst wenn nur der Verdacht besteht, daß diese über Massenvernichtungswaffen verfügen könnten.

Die Präventivdoktrin hat Strategen in Europa, Indien Rußland und China in helle Aufregung versetzt, die ihrerseits in Reaktion auf die von den USA forcierte nukleare Aufrüstung – darunter der Plan zur Herstellung einer neuen Generation von Mini Atomwaffen – auf „asymetrische Kriegführung“ setzen, während sich zugleich immer mehr Stimmen erheben, die die Entlassung Cheneys fordern.

Will man das Denken der Kriegsfraktion in der Bush Administration näher untersuchen, so stößt man auf eine neokonservative, imperiale Denkschule, die in ihrer ideologischen Ausrichtung von dem Politikphilosophen Leo Strauss und dem Nazikronjuristen Carl Schmitt, sowie den Ideen Friedrich Nietzsches beeinflußt wurde. Leo Strauss, der in den 30er Jahren in die USA emigrierte und dort in den 50er Jahren an der Universität Chicago einen Lehrstuhl für politische Wissenschaften einrichtete, hat in den USA mehrere Generationen einflußreicher Politiker und Ideologen hervorgebracht. Dem Strauss Kindergarten gehören beispielsweise John Podhoretz, Irving und William Kristol, Paul Wolfowitz (ein Schüler des Strauss Schülers Albert Wohlstetter) Francis Fukuyama, Samuel Huntington und Robert Kagan an. Straussianer beherrschen heute konservative Denkfabriken wie das American Enterprise Institute, die Heritage und Olin Foundation. Und eben solche Straussianer geben in der Bush Administration den Ton an.

Wer ist Leo Strauss? Leo Strauss ist kein eigenständiger Philosoph, sondern versteht sich als Kommentator klassischer Texte, zum Beispiel Platons, in die er seine Schüler gleich einem Initiationsritual einführt. Strauss ist Sophist, der die Technik der Lüge, als machterhaltendes Element vermittelt, wobei er die Macht getreu dem Hobbesschen Grundsatz „Macht setzt Recht“ versteht. Gemäß ihrem Meister verstehen sich die Straussianer, als eine Elite von „Weisen“ und „Eingeweihten“, wobei sie die Philosophie wie eine Geheimsprache verstehen. Sie beraten die Machthaber, wie diese die Auswüchse der Macht verschleiern und dem gewöhnlichen Volk Einblick in die Strukturen der Macht verwehren können. Und sie versuchen durch eine entsprechende Sprachregelung dem unter Präsident Bush entstehenden „neuen römischen Empire“ eine entsprechende geistige „Aura“ zu verschaffen.

Schon ein flüchtiger Blick auf die seit Anfang der 90er Jahre erschienenen Bücher einiger einflußreicher Strauss Schüler – darunter zum Beispiel Alan Bloom und Francis Fukuyama – läßt die aus philsophischen Versatzstücken gezimmerte, esoterische Philosophie der Macht dieser Straussianer erkennen. Die Mixtur reicht von sophistisch verdrehter Platoninterpretation über eine Umdeutung der Werke Thomas Hobbes, Hegels, Friedrich Nietzsches, Carl Schmitts bis hin zur Bewunderung für den postmodernen Hegel Interpreten und Synarchisten Alexandre Kojeve. Nominell geben sich die Straussianer als Verteidiger der „liberalen Demokratie“, die in der „amerikanischen Verfassung“, die sich, wie sie fälschlicherweise behaupten, auf Hobbes‘ und Lockes philosophische Prämissen gründet, ihren Ausdruck gefunden haben.

In einem Anfang dieses Jahres erschienenen Buch Macht und Ohmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung beschreibt der neokonservative Strauss Schüler Robert Kagan – er ist ehemaliger Mitarbeiter des US Außenministeriums (1994–98) und Mitglied der Heritage Foundation – aus der Sicht des liberalimperialen Denkers die Hobbesschen Prinzipien der neuen Weltmacht USA:

„In der alles entscheidenden Frage der Macht, in der Frage nach der Wirksamkeit, Ethik, der Erwünschtheit von Macht, gehen die amerikanischen und europäischen Ansichten auseinander. Europa wendet sich von der Macht ab, oder bewegt sich, anders gesagt, über diese hinaus. Es betritt eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen und Regeln, transnationalen Verhandlungen und internationaler Kooperation, ein posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants ‚Ewigem Frieden‘ gleichkommt.

Dagegen bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben Macht in einer anarchischen Hobbesschen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlaß ist und in der wahre Sicherheit sowie Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor vom Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen.“

Strauss gab zwar vor, Platonanhänger zu sein, verdrehte aber Platons Texte sophistisch. So behauptet er und die Straussianer, Sokrates sei zu Recht vom Athener Gericht 399 v. Chr. zum Tode verurteilt worden, denn er habe wissen müssen, daß wer die Götter in der Polis hinterfragt, die Grundfesten des Gemeinwesens und den sozialen Frieden einreiße. Das ist eine Lüge, denn Sokrates, der sich „als Instrument Gottes“ (Apologie) verstand, wurde verurteilt, weil er gewagt hatte, die sophistischen Meinungen zu hinterfragen und sich für die Wahrheit einzusetzen.

Ähnlich sophistisch ist Strauss‘ Interpretation von Platons „Staat“. Dieser Dialog wolle nicht das Ideal eines gerechten Staates aufstellen, so schreibt Strauss, sondern vielmehr werde anhand des Dialogs zwischen dem Sophisten Trasymachos, welcher behauptet „Macht setzt Recht“, und Sokrates, der die These aufstellt, Gerechtigkeit leite sich von einem übergeordneten Naturrecht, der Idee des Guten ab, gezeigt, daß sich Sokrates mit der Macht (Trasymachos) arrangiert.

In seinem Werk „Naturrecht und Geschichte“ schreibt Strauss selbstentlarvend über den Sophisten:

„Der Sophist ist ein Mensch, der der Wahrheit gegenüber gleichgültig ist und die Weisheit nicht liebt… So befaßt er sich mit der Weisheit nicht um ihrer selbst willen und nicht weil ihm die Lüge zutiefst verhaßt wäre, sondern aus Gründen der Ehre und des Prestiges, die mit ihr einhergehen. Er lebt und handelt nach dem Grundsatz, daß das Ansehen, die Überlegenheit über andere oder das Mehrhaben als andere das höchste Gut ist… Das höchste Gut des Sophisten ist der von Weisheit hergeleitete Nimbus. Um sein höchstes Gut zu erlangen, muß er seine Weisheit entfalten. Dies ist gleichbedeutend mit der Ansicht, das naturgemäße Leben des Weisen bestehe darin, tatsächliche Ungerechtigkeiten mit dem Anschein der Gerechtigkeit zu verbinden.“

Einen ebenso prägenden geistigen Einfluß auf Strauss und die Straussianer hatte die Philosophie des Thomas Hobbes und Friedrich Nietzsches. Strauss widmete dem Denken von Thomas Hobbes ein umfassendes Werk. Entscheidende Grundsätze von Hobbes sind, so zeigt Strauss darin auf, daß dieser einen radikalen Bruch mit dem christlichen Naturrecht vollzog und eine Lehre begründete, welche für jede Staatstheorie grundlegend annimmt, daß die Natur des Menschen von Natur aus böse ist.

Hobbes habe eine Lehre begründet, welche von der Leugnung der Natürlichkeit des Altruismus ausgeht. Er habe die Thesen von der „Raubtiernatur“ des Menschen, vom Kriege jeder gegen jeden als der natürlichen Ausgangslage der Menschheit, von der wesentlichen „Ohmacht der Vernunft“ usw. aufgestellt und auf Grundlage dieser „pessimistischen Ansicht von der Natur des Menschen“ seine politische Wissenschaft mit der Lehre von den Leidenschaften des Menschen im Zentrum etnwickelt. Hobbes sei der eigentliche Begründer der modernen Philosophie, der die „idealistische“ Tradition der Antike und des Christentums zurückwies und als Materialist aufzeigte, daß die traditionelle Philosophie versagte. Den Altriusmus negierend, schrieb Strauss, sehe Hobbes den Menschen als von Leidenschaften getrieben – dazu gehören die Angst vor dem Tode, Eitelkeit und Egoismus. Von der Eigenliebe getrieben herrsche unter den Menschen das Prinzip „Bellum contra Omnes“ (Krieg aller gegen alle). Der Mensch ist Gefangener seiner Selbstliebe, der die Existenz des „Summun Bonum“ leugnet und dessen Vernunft impotent gegenüber den Leidenschaften ist. Um diesen Zustand des Krieges Aller gegen Alle zu überwinden, hätten sich die Menschen aus Selbsterhaltung zusammengetan und die Macht auf einen absoluten Souverän, den Leviathan übertragen, der sich durch das Prinzip „Auctoritas fiat legem“ und nicht durch „caritas“ Weisheit und Liebe auszeichnet. Ein entschiedener Gegner von Hobbes war G. W. Leibniz. Die meisten seiner juristisch- philosophisch/ökonomischen Schriften sind zentriert auf die Frage der Staatskunst. Leibniz wies das Hobbessche Prinzip, wonach Machtpolitik von dem Prinzip „Macht setzt Recht“ bestimmt ist, radikal zurück. Leibniz‘ Staatstheorie gründet darauf, daß der Mensch von Natur aus gut ist und das gesellschaftliche Zusammenleben auf der Idee des „Gemeinwohls“ beruht.

In einem 1670 verfaßten Aufsatz „Universale Gerechtigkeit als klug verteilte Liebe zu allen“ schrieb der junge Leibniz, daß Gerechtigkeit nicht von der Klugkeit und Liebe zu trennen sei. Es gebe keine Gerechtigkeit ohne Klugheit und „Ferner kann die Klugheit auch nicht vom eigenen Wohl abgetrennt werden, und was immer dagegen eingewandt worden ist, ist hohles Zeug und fern von der Praxis selbst derer, die es behaupten (…). Denn auch das Wohl derer, die wir lieben wünschen wir um unserer Freude willen, die wir aus ihrem Glück gewinnen. Lieben nämlich heißt am Glück eines anderen seine Freude finden. Gott selbst lieben wir über alles, weil die Lust, die Betrachtung dieses allerschönsten Wesens zu genießen, größer ist als jede andere denkbare Lust.“

Daraus schlußfolgert Leibniz, daß es nichts Größeres gibt, als sich am Wohl des anderen zu erfreuen: „Von hier aus läßt sich auch die wahre Defintion der Liebe formulieren. Wir lieben nämlich den, dessen Wohlergehen uns Freude bereitet. Deshalb ist es gewiß, daß alles, was geliebt wird, schön ist, d. h. ergötzlich für ein empfindendes Wesen, obwohl umgekehrt nicht alles geliebt wird, was schön ist… Weil also Gerechtigkeit forderte, das Wohl eines anderen um seiner selbst willen zu erstreben, und weil das Wohl eines anderen um seiner selbst willen zu erstreben bedeutet, andere zu lieben, so folgt aus der Natur der Gerechtigkeit, daß sie Liebe ist… Gerechtigkeit wird folglich die zur Gewohnheit verfestigte innere Haltung sein, andere zu lieben (d. h. das Wohl anderer als solches zu erstreben oder am Wohl anderer sich zu freuen), solange es durch Klugheit geschehen kann.“

Leibniz, Platon und der bekannte Renaissance Dichter William Shakespeare, aber auch Friedrich Schiller – wie die folgende Ibykus-Ausgabe aufzeigt – haben sich in ihren Werken intensiv mit der Frage der Macht und ihren Grundlagen auseinandergesetzt. In seinen römischen Tragödien ging Shakespeare der Frage nach, was die Ursachen für die Korrumpierung der Macht sind. Die Korrumpierung der Macht beginnt bei dem Einzelnen im Staate, zeigte dieser auf. Dieselbe Frage stellte Platon in seinen Dialogen und Friedrich Schiller in seinen Briefen zur Ästhetischen Erziehung. Schiller kam zu dem Schluß, daß um des Erhalt des Gemeinwohls willens eine der vornehmlichsten Aufgaben darin besteht das „Empfindungsvermögen“ des Einzelnen auszubilden.