Von Nikolaus von Kues lernen

Wird die Menschheitsgeschichte in einer Tragödie enden oder zu einem neuen Paradigma führen?


Helga Zepp-LaRouche, Präsidentin des Schiller-Instituts, hielt den folgenden Vortrag am 14. Juni 2021 auf einem Internetforum mit Jugendlichen aus der ganzen Welt. Der Text wurde überarbeitet und mit Zwischenüberschriften versehen.


Ich freue mich sehr, mit so vielen jungen Menschen aus so vielen Ländern zu sprechen, denn wir befinden uns in einer Phase der Geschichte, in der Entscheidungen getroffen werden, die katastrophale Folgen haben können. Man muß sich nur die gegenwärtige geopolitische Konfrontation zwischen dem sogenannten Westen und Rußland und China ansehen. Wenn wir diese geopolitische Auseinandersetzung nicht überwinden – die Vorstellung, daß das Interesse eines Landes oder einer Gruppe von Ländern gegen andere Gruppen von Ländern unbedingt verteidigt werden müsse, auch mit militärischen Mitteln –, dann werden wir in einem Dritten Weltkrieg enden. Und wir sind schon sehr nahe dran.

Aber es gibt auch viele innerstaatliche Konflikte in verschiedenen Ländern mit scheinbar unüberwindbaren Differenzen zwischen verschiedenen politischen Parteien oder ethnischen Gruppen. Wenn diese Konflikte nicht überwunden werden, kann es zu Bürgerkriegen oder zum Zusammenbruch ganzer Gesellschaften kommen.

Deshalb ist das Konzept des Nikolaus von Kues von dem Zusammenfall der Gegensätze, der „coincidentia oppositorum“, in meinen Augen ein unverzichtbarer Ansatz. Seine Methode stimmt mit der von Leibniz, Wernadskij, Einstein und vor allem mit der Methode von Lyndon LaRouche überein.

Das Leben des Nikolaus war unglaublich reichhaltig. Er war kein Akademiker, er hat all diese Konzepte entwickelt, während er politisch kämpfte. Er reiste durch Deutschland, er schlug Reformen vor, die Martin Luther überflüssig gemacht hätten. Er wollte die Kirche zu einem Zeitpunkt säubern, als diese in einer schweren moralischen Krise steckte. Er verfaßte tiefgreifende Konzepte und war gleichzeitig eine äußerst aktive politische Person.

Doch bevor ich auf einige seiner Konzepte und Ideen eingehe, möchte ich Ihnen einen Eindruck seines Lebens vermitteln. Er lebte von 1401 bis 1464. Man muß in gewisser Weise eine persönliche Beziehung zu ihm aufbauen, und wenn man das geschafft hat, gehört das Lesen seiner Schriften zu den lohnendsten Übungen. Immer wenn ich das Gefühl habe, daß mein Denkprozeß verwirrt ist, wende ich mich einigen großen Denkern zu und fülle sozusagen meine Batterien auf. Und Nikolaus ist ganz sicher einer, der den eigenen Denkprozeß in Ordnung bringen kann.

Abbildung 1. Die Stadt Trier (Merian-Kupferstich von 1646).
Abbildung 1. Die Stadt Trier (Merian-Kupferstich von 1646)

Zunächst einmal möchte ich Ihnen einen Eindruck von der Umgebung vermitteln, aus der er stammt. Abbildung 1 ist ein Kupferstich aus meiner Heimatstadt Trier. Der Grund, warum ich es zeige, ist, daß Trier nur etwa 30 Autominuten von Bernkastel-Kues entfernt ist, wo Nikolaus geboren wurde. Sein Name Cusanus ist die lateinische Form von Kues, dem Dorf auf der einen Seite der Mosel, und Bernkastel liegt auf der anderen Seite. Er wurde auch Treverensis genannt, der Mann aus Trier. In Abbildung 2 sieht man sein Geburtshaus, das heute ein Museum ist. Wenn Sie jemals nach Bernkastel-Kues kommen, sollten Sie es unbedingt besuchen. Es gibt dort viele Ausstellungen und früher gab es alle seine Bücher zu kaufen, jetzt nur noch online. Es ist ein toller Ort zum Studieren.

Das Geburtshaus des Nikolaus von Kues
Abbildung 2. Das Geburtshaus des Nikolaus von Kues in Bernkastel-Kues. Bild: Wikipedia/Sir Gawain

Abbildung 3 zeigt das St.-Nikolaus-Hospital, worin sich auch eine kleine Kirche befindet. Das Gebäude ist ein Altersheim, das Cusanus gestiftet hat. Es besteht seit 590 Jahren. Dort gibt es auch eine Vinothek, wo lokale Weine verkauft werden. Dieser Ort liegt mir sehr am Herzen. Der Grund dafür ist, daß wir hier den 65. Geburtstag von Lyn gefeiert haben. Norbert Brainin, der erste Geiger des Amadeus-Quartetts, und der berühmte italienische Pianist Carlo Levi Minzi haben dort am 9. September 1987 Beethovens Sonate Opus 96 für Violine und Klavier aufgeführt.

Das war wirklich einer der schönsten Momente in unserem Leben, weil alles zusammen kam: Nikolaus von Kues, Beethoven, Lyns Geburtstag, Norbert Brainin, Carlo Levi Minzi und beinahe die gesamte europäische LaRouche-Organisation.

Das St.-Nikolaus-Hospital in Bernkastel-Kues. Bild: Wikipedia/Sir Gawain
Abbildung 3. Das St.-Nikolaus-Hospital in Bernkastel-Kues. Bild: Wikipedia/Sir Gawain

In Abbildung 4 sehen wir die Bibliothek von Nikolaus von Kues. Das ist ein ganz besonderer Ort, wobei dieses Bild dem Ort nicht ganz gerecht wird. Als ich vor etwa 40 Jahren das erste Mal dort war, lagen noch alle Handschriften aus dem 8., 9. und 10. Jahrhundert aus, d. h. man konnte tatsächlich sehen, was Nikolaus in seinem Besitz hatte, welchen Zugang er zu Quellen hatte. Auf den Seiten einiger dieser Manuskripte befinden sich viele Notizen von ihm. Heute ist das meiste davon digitalisiert und unter Glas, um es vor den Touristen zu schützen. Doch es ist immer noch ein Ort, wo man beim Eintreten den Geist der Geschichte spürt und man über die großen kreativen Gedanken nachdenken kann, die an diesem Ort entwickelt wurden. Für mich ist diese Bibliothek einer der absolut heiligen Orte. Sie ist, glaube ich, die älteste Privatbibliothek in Deutschland in dieser Größe. Sie gibt einem ein Gefühl für die Person, die dort gelebt hat. An einer anderen Stelle dieses Raums sieht man auch die astronomischen Instrumente, die Cusanus für seine Beobachtungen zur Verfügung standen.

Blick in die Bibliothek des Nikolaus von Kues. Foto: Achim Bednorz
Abbildung 4. Blick in die Bibliothek des Nikolaus von Kues. Foto: Achim Bednorz

Der Lebensweg des Nikolaus von Kues

Wie schon gesagt, er wurde 1401 geboren. Sein Vater hieß Johann („Henne“) Cryfftz, was Krebs heißt (Abbildung 5). Er betrieb eine Fähre von Bernkastel nach Kues über die Mosel und beförderte auch Waren moselauf- und -abwärts. Nikolaus war eines von vier Kindern, und natürlich nahm ihn sein Vater mit auf diese Reisen auf der Mosel. Abbildung 6 soll Ihnen einen Eindruck von dem malerischen Moseltal vermitteln. Es hat steile und sanfte Hügel, schöne Dörfer und Städte, Schlösser und Wälder. Abbildung 7 zeigt die Innenstadt von Bernkastel. Man muß sich im Geiste vorstellen, daß der junge Nikolaus in dieser schönen Umgebung ständig hin- und hergereist ist. Und da die ersten Eindrücke in der Kindheit sehr wichtig sind, um die Schönheit des Geistes zu formen, wollte ich Ihnen die Umgebung zeigen, aus der er kommt. Was ihn aus all seinen Geschwistern und anderen Schülern heraushob, war seine unglaubliche intellektuelle Neugier und sein Wunsch, schon als kleiner Junge alles zu erforschen.

Das Wappen (Krebs) des Nikolaus Cusanus im Kreuzgang des Cusanus-Stifts in Bernkastel-Kues. Bild: Wikipedia/Agnete
Abbildung 5. Das Wappen (Krebs) des Nikolaus Cusanus im Kreuzgang des Cusanus-Stifts in Bernkastel-Kues. Bild: Wikipedia/Agnete
Die Moselschleife bei Bremm. Bild: Wikipedia/Kora27
Abbildung 6. Die Moselschleife bei Bremm. Bild: Wikipedia/Kora27
Der Marktplatz von Bernkastel. Bild: Wikipedia/Berthold Werner
Abbildung 7. Der Marktplatz von Bernkastel. Bild: Wikipedia/Berthold Werner

Es gibt zwar nur mündliche Zeugnisse, keine schriftlichen Aufzeichnungen, aber es scheint, daß Nikolaus sich schon sehr früh den Brüdern vom Gemeinsamen Leben in Deventer anschloß; das war ein von Gerhart Groote gegründeter Lehrorden, der die Schüler auf das Studium an den Universitäten vorbereitete. Vor allem ermutigte der Orden die Schüler zum selbständigen Lernen. 1416 schrieb sich Nikolaus an der Universität Heidelberg ein. Das war mitten in der Zeit der berühmten Kontroverse zwischen Papst und Bischofssynode, die in Basel tagte. Dabei ging es unter anderem um die Frage, wer die Oberhoheit hatte – der eher parlamentarische Ansatz der Synode oder der Papst?

Nach eineinhalb Jahren wechselte Nikolaus an die Universität von Padua, eines der wichtigsten intellektuellen Zentren Italiens. Er studierte dort Rechtswissenschaft und kanonisches Kirchenrecht. In dieser Zeit machte er die Bekanntschaft mit vielen berühmten Vertretern seiner Zeit aus den Bereichen Mathematik, Astronomie, Medizin und Humanismus. Er traf zum Beispiel Giuliano Cesarini, mit dem er eine lebenslange Freundschaft pflegte. Cesarini war etwas älter und machte ihn mit den Schriften Platons und Aristoteles‘ bekannt. Bald danach wurde Cesarini Professor an der Universität und später ein berühmter, sehr wichtiger Kardinal. Er unterrichtete Nikolaus auch in der griechischen Sprache. Nikolaus freundete sich auch mit Aeneas Silvius Piccolomini an, dem späteren Papst Pius II., außerdem mit Paolo dal Pozzo Toscanelli (Abbildung 8), der die berühmten Karten entwarf, die später in die Hände von Kolumbus gelangten. Toscanelli hatte in einem Brief an den portugiesischen Domherrn Fernão Martins vorgeschlagen, man könne China und Indien auf dem Weg nach Westen über den Ozean erreichen, was die Grundlage für Kolumbus‘ Entdeckung Amerikas wurde.

Skulptur von Paolo dal Pozzo Toscanelli an der Fassade des Florenzer Doms Santa Maria del Fiore. Bild: Wikipedia/Sailko
Abbildung 8. Skulptur von Paolo dal Pozzo Toscanelli an der Fassade des Florenzer Doms Santa Maria del Fiore. Bild: Wikipedia/Sailko

Im Jahr 1423 wurde Nikolaus Doktor des Kirchenrechts und setzte dann seine Studien in Köln fort, wo er zum Sekretär des päpstlichen Legaten Giordano Orsini bestellt wurde. Von diesem Zeitpunkt an begann Nikolaus von Kues, sich in die wichtigsten Angelegenheiten der Kirche und der verschiedenen Staaten einzumischen.

Nachdem er in Padua mit den Humanisten in Kontakt gekommen war, war er von der Idee durchdrungen, man müsse die ursprünglichen Quellen aufsuchen. Man dürfe nicht einfach glauben, was die Professoren erzählen. Man müsse zu den Handschriften und ihren Denkern zurückgehen. Und so entwickelte er eine Begeisterung für das Auffinden alter Dokumente in den Klöstern und Bibliotheken der Kirchen. In diesem Zusammenhang fand er 16 vergessene Komödien des römischen Dichters Plautus, was seinem Ruhm einen weiteren Aspekt hinzufügte. Seine Forschungen ließen ihn auch viele Schriften römischer, griechischer und neuplatonischer Denker kennenlernen. Einer von ihnen war Dionysius Areopagita, ein neuplatonischer Schriftsteller, der im 1. Jahrhundert n. Chr. lebte, jedoch Dokumente in einem christlichen Rahmen schrieb. In einem dieser Dokumente wird ein Athener, ein Mitglied des Rates der Stadt, erwähnt, der laut diesem Dokument zum Christentum konvertiert sein soll. Aber aus dessen Mund kamen Ideen, die eigentlich von Plotin, einem anderen neuplatonischen Denker im dritten Jahrhundert n. Chr., und seinem Schüler Proklos, ebenfalls ein Neuplatoniker, formuliert worden waren. Aber die von Kues aufgefundenen Schriften stammten aus dem 5. Jahrhundert n. Chr., und zwar von dem Autor mit dem Pseudonym des Areopagita, das er benutzte, um seinen Argumenten mehr Autorität zu verleihen.

Nikolaus war von diesen Schriften sehr angetan, aber er begann an ihrer Echtheit zu zweifeln, weil er feststellte, daß diese Gedanken, die erst im fünften Jahrhundert geschrieben wurden, die Autoren vom ersten und zweiten Jahrhundert nicht erwähnten. Er entdeckte also, daß diese Dokumente gefälscht waren, was damals natürlich viel schwieriger war. Heutzutage hat man Suchmaschinen und kann Vergleiche anstellen und so weiter, aber damals mußte man sich durch zahllose schwierige Handschriften durcharbeiten. Das zeigt sehr gut, wie Cusanus gearbeitet hat. Er hat nicht einfach alles für bare Münze genommen, er hat es erforscht.

Er fand auch den Beweis dafür, daß die berühmte Konstantinische Schenkung ein Betrug war. Darüber schrieb er in der Concordantia catholica, seinem ersten großen Werk von 1433. Die Konstantinische Schenkung handelt von Kaiser Konstantin, der von 306 bis 336 in Augusta Treverorum regierte. Als das Römische Reich in vier Teile geteilt war, befand sich der Sitz des Kaisers nördlich der Alpen tatsächlich in meiner Heimatstadt Trier, in Augusta Treverorum, wie der lateinische Name lautet. Dort steht noch heute die berühmte Basilika, der Sitz von Kaiser Konstantin – ein sehr wichtiges Gebäude aus dem 4. Jahrhundert (Abbildung 9). Der Kern der Basilika ist sogar noch etwas älter. Heute ist sie eine protestantische Kirche. Aber dies war einmal der Sitz von Kaiser Konstantin, der eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, weil er das Christentum im Römischen Reich einführte. Die Geschichte, von wem die Konstantinschenkung ausging, war wichtig. Wenn der Kaiser sie dem Vatikan übergeben hat, dann war das für die Machtspiele in dieser Zeit relevant. Nikolaus erkannte aber sofort, daß es sich um einen Betrug handelte. Die ganze Sache war in Wirklichkeit eine Erfindung aus dem 8. Jahrhundert.

Die Basilika in Trier, Sitz von Kaiser Konstantin, der von 306 bis 336 in Augusta Treverorum regierte. Bild: Wikipedia/Berthold Werner
Abbildung 9. Die Basilika in Trier, Sitz von Kaiser Konstantin, der von 306 bis 336 in Augusta Treverorum regierte. Bild: Wikipedia/Berthold Werner

Concordantia catholica

Im Jahr 1432 ging Nikolaus nach Basel, wo die Bischofssynode noch immer stattfand, und wurde Sekretär von Cäsarini. Dort begann er, die berühmte Concordantia catholica zu schreiben, das Dokument, das er für das Konzil von Basel verfaßte. Dieses Dokument ist äußerst wichtig. Bei einer anderen Gelegenheit habe ich mich mit der langen Geschichte der Entstehung des souveränen Nationalstaates beschäftigt. Das war keine Selbstverständlichkeit. Und die meisten Menschen haben, wenn sie über Nationen sprechen, keine Ahnung von dem historischen Hintergrund. Aber in der europäischen Geschichte entwickelte sie sich aus der Kaiserherrschaft, aus dem vatikanischen Kirchenstaat, der ganz europäisch war. Die Entstehung einzelner Nationen wie Frankreich, die erste souveräne Nation, England die zweite, und dann schließlich viele weitere, gelang in einem sehr, sehr schwierigen Prozeß.

Die Schrift Concordantia catholica stellt einen absoluten Durchbruch dar. Im ersten und zweiten Buch geht es um eine Reform der Kirche, im dritten Buch um die Reform des Heiligen Römischen Reiches. Zum ersten Mal stellt Cusanus verfassungsrechtliche Forderungen an den Herrscher, ein großer Schritt hin zum modernen Verfassungsrecht und zur Gewaltenteilung.

Es ist eine völlig neue Idee von der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen als Grundlage für ihre Beteiligung an der Regierung. Nikolaus schreibt in der Concordantia catholica:

Da also alle von Natur aus frei sind, kann jede Regierung, ob sie nun im geschriebenen oder im lebendigen Recht, in der Person eines Fürsten besteht, nur aus der Zustimmung und dem Einverständnis der Untertanen hervorgehen. Denn wenn die Menschen von Natur aus gleich mächtig und gleich frei sind, so kann die zweckmäßig geordnete Herrschaft eines gemeinsamen Herrschers, der ihnen an Macht gleich ist, nur durch die Wahl und die Zustimmung der anderen zustande kommen, und auch das Gesetz wird durch Zustimmung errichtet.

Die neue, revolutionäre Idee liegt in der Feststellung, daß die Herrschenden und die Beherrschten gleich und frei sind. Denn bis zu diesem Zeitpunkt, wirklich bis zum 15. Jahrhundert, waren alle Regierungsformen, zumindest in der europäischen Welt, Oligarchien. Eine kleine oligarchische Elite hatte ein Interesse daran, die Massen rückständig zu halten, sie wie Sklaven oder Heloten zu behandeln, die Herde auszudünnen, wenn es zu viele waren. Die Idee, daß man die Zustimmung der Regierten braucht, war ein revolutionäres Konzept, ein absoluter Durchbruch. Ich denke, daß Cusanus vom Standpunkt des Staatsrechts aus gesehen völlig unterschätzt wird. Diskutierte man über den Ursprung des Nationalstaates, würde man seine Bedeutung erkennen. Das System nämlich, das Cusanus entwickelte, ist zum ersten Mal ein repräsentatives System, in dem eine gegenseitige Rechtsbeziehung zwischen der Regierung und den Regierten besteht. Er sagt, was für den Deutschen gilt, gilt auch für den Äthiopier. Er behandelt es im Grunde als ein universelles Prinzip, das sowohl für Afrika als auch für Europa gültig ist.

Im dritten Buch fährt er fort:

Das Naturrecht geht allen menschlichen Erwägungen voraus und bildet das Prinzip für sie alle. Zunächst will die Natur, daß jede Tierart ihre körperliche Existenz und ihr Leben bewahrt, daß sie das vermeidet, was ihr schaden könnte, und daß sie das sichert, was für sie notwendig ist. Denn die erste Voraussetzung des Wesens ist, daß es existiert.

Schriebe man eine neue Verfassung für eine Welt souveräner Nationalstaaten, sollte dies eines der Axiome sein, denn das Recht auf Existenz ist ein sehr wichtiges primäres philosophisches ontologisches Konzept. Er fährt fort:

Die Menschen aber sind von Beginn vor allen Lebewesen mit der Vernunft begabt. Durch Ausübung der Vernunft erkennen sie, daß die Zusammengehörigkeit und die Gemeinschaft zu ihrer Bewahrung und zur Bestimmung eines jeden in hohem Maße beitragen – ja sogar notwendig sind. Deswegen haben die Menschen einem natürlichen Instinkt folgend und beieinander wohnend, Dörfer und Städte gebaut, um zusammen zu leben. … Folglich haben die staatlichen Gemeinschaften ihren Ursprung darin, daß ihre Mitglieder sich in ihnen vereinigt und unter Zustimmung aller Gesetze erlassen haben, um die Einheit und die gemeinschaftliche Eintracht zu bewahren, sowie darin, daß sie einige dazu bestimmt haben, darüber zu wachen.

Das war, wie gesagt, ein völliger Bruch mit der oligarchischen Gesellschaftsform. Es war die grundlegende Idee, daß

alle legitime Macht aus gewählter Übereinstimmung und freier Unterwerfung erwächst und daß im Volk ein göttlicher Same kraft seiner gemeinsamen gleichen Geburt und der gleichen natürlichen Rechte der Menschen, aller Menschen, vorhanden ist. So wird die Autorität, die von Gott kommt, wie der Mensch selbst, als göttlich anerkannt, wenn sie aus der gemeinsamen Zustimmung der Untertanen hervorgeht. Derjenige, der als Repräsentant des Willens aller in die Autorität eingesetzt ist, kann als öffentliche oder gemeinsame Person bezeichnet werden. Der Vater aller regiert ohne Hochmut und Stolz in einer rechtmäßigen und legitimierten Regierung.

Hier haben wir also den Keim, sozusagen die Geburtsstunde des repräsentativen Systems, wie zum Beispiel der Republik der Vereinigten Staaten. Denn die Verfassung der Vereinigten Staaten beschreibt keine Demokratie, sondern eine Republik. Das repräsentative System ist in gewissem Sinne die einzige Möglichkeit, wie der Einzelne an der Regierung teilnehmen kann. Basisdemokratie funktioniert nicht, man kann nicht über jede einzelne Frage abstimmen lassen, wo man sich einigt, wie viele Laternenpfähle im Dorf aufgestellt und wie hoch die Steuern sein sollen. Wenn man über alles einzeln abstimmen will, verzettelt man sich. Deshalb ist das repräsentative System die einzige funktionierende Regierungsform, das Staatsbürger erfordert.

Während er [der Herrscher] sich selbst sozusagen als Geschöpf aller seiner Untertanen als Kollektiv anerkennt, soll er als ihr Vater handeln, als Individuen. Das ist der göttlich verordnete eheliche Zustand der geistigen Vereinigung auf der Grundlage dauerhafter Harmonie, durch die ein Gemeinwesen am besten in der Fülle des Friedens zum Gut der ewigen Glückseligkeit geführt wird.

In einer Verfassung, die mit dem Gemeinwohl im Einklang steht, wird der Herrscher also aufgefordert, wie ein Vater aller zu handeln, was offensichtlich das Gefühl der Liebe hervorruft. Und diese Idee der Liebe zieht sich wie ein roter Faden durch alle Schriften von Nikolaus.

Außerdem soll sich der König mit vortrefflichen Männern umgeben, die aus der Gesamtheit seiner Untertanen und aus jedem Teile seines Reiches ausgewählt sind und ihm täglich mit Rat zur Seite stehen. … Diese Räte sollen das Gemeinwohl derer, die sie repräsentieren, unablässig verteidigen, Ratschläge geben und das angemessene Mittelglied sein, durch welches der König regiert und auf seine Untertanen Einfluß nimmt wie diese ihrerseits durch jene auf den Herrscher, wo es angemessen ist Einfluß nehmen. In solchem täglichen Rat beruht zu einem guten Teil die große Macht der königlichen Herrschaft. Freilich sollten diese Räte in der allgemeinen Versammlung des Königreichs einmütig abgeordnet und durch Gesetze und Eide öffentlich verpflichtet werden zum allgemeinen Besten zu raten …

Ich denke, diese Grundsätze der Concordantia catholica sind auch heute noch sehr gute Ratschläge für die Organisation des politischen Lebens, denn die gegenseitige Rechtsbeziehung ist der Weg, wie man das Gemeinwohl bewahren und den Staat funktionsfähig erhalten kann.

Nachdem Nikolaus dies geschrieben hatte, dauerte es weitere 343 Jahre, bis die Ideen eines repräsentativen Systems zur amerikanischen Verfassung wurden, die einzige Möglichkeit, die unveräußerlichen Rechte des Einzelnen zu verteidigen. Sie finden ihren Ausdruck sowohl in der Unabhängigkeitserklärung als auch in der Amerikanischen Revolution.

Nun wurde die Concordantia catholica für das Konzil der Bischöfe geschrieben, und wenn sie seinem Rat gefolgt wären, hätten sie alle Probleme lösen können. Aber in Wirklichkeit waren sie sich in vielen Bereichen und bei vielen Themen uneinig. Nikolaus erkannte sehr bald, daß es nicht funktionieren würde, an der Synode festzuhalten. Also verlagerte er seine Position von der Synode auf die Position des Papsttums.

Die Bedeutung des Filioque

Zu dieser Zeit bestand das andere große Thema neben dem Konflikt zwischen den Bischöfen und dem Papst in dem Konflikt zwischen der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche. Sie hatten sich getrennt, und es gab Verhandlungen über ihre Wiedervereinigung. Die Orthodoxen erkannten nicht das Konzil an, sondern den Papst. Cusanus, der durch seine Schriften und sein unglaubliches Wissen berühmt geworden war, wurde vom Papst gebeten, eine Delegation aus Konstantinopel zu den Konzilen von Ferrara und Florenz zu begleiten. Er reiste also nach Byzanz, nach Konstantinopel. Auf der Rückreise befanden sich dann eine Delegation des orthodoxen Kaisers Josef Paleologos, 700 Gelehrte und führende Kleriker. In den mitgenommenen Handschriften entdeckte er die Feststellung, daß das Filioque in den frühen Synoden in einem Teil des Credo gleichermaßen vom Vater und vom Sohn ausging. Das mag für die Menschen von heute kein Thema sein, aber die Frage des Filioque war damals eine sehr wichtige in der Kirche, weil es darum ging, ob in der Dreifaltigkeit – Vater, Sohn und Heiliger Geist – der Logos [das Wort, der Wille Gottes] nur vom Vater ausgehe oder auch vom Sohn. „Filio“ heißt Sohn und „que“ im Lateinischen „auch“: Filioque.

Nikolaus hatte zuvor vermutet, es müßte Dokumente geben, die bewiesen, daß die frühen Konzile und das Filioque auch durch die spätere orthodoxe Kirche anerkannt worden waren. Er konnte diese Dokumente finden, denn das war praktisch der Punkt, über den die Spaltung stattgefunden hatte. Dies spielte eine äußerst wichtige Rolle bei der Einigung der Konzile von Ferrara und Florenz.

Unter den Würdenträgern, die von Konstantinopel nach Ferrara reisten, befand sich auch Giorgos Gemistos Plethon, ein Berater des byzantinischen Kaisers. Er kannte den gesamten Platon. Platon war in Europa nach dem Zusammenbruch des antiken Griechenlands weitgehend verschwunden. Wie Sie vielleicht wissen, war Platon ein äußerst scharfer Kritiker des Aristoteles, und Plethon stellte Platons Schriften auch in Florenz vor. Er sagte, Aristoteles hätte absolut kein Verständnis für Platon gehabt, weil er die Schöpfung durch Gott als göttliche Vorsehung und die Unsterblichkeit der Seele ablehnte. Diese Ideen seien mit dem Christentum völlig unvereinbar.

Zu der Delegation gehörte auch der Erzbischof von Nizäa, Bessarion, ebenfalls ein absoluter Kritiker des Aristoteles. Auch er intervenierte massiv für Platon. Sie alle trafen Cosimo de Medici, den berühmten Mäzen und Gründer der Platonischen Akademie. Diese Delegation brachte zum ersten Mal seit etwa 1400 Jahren die gesamte Sammlung von Platons Werken mit. Als das in Florenz und anderen italienischen Städten bekannt wurde, kam es zu einer regelrechten Explosion der Begeisterung für Platon, die bei den Leuten, die ich zuvor erwähnt hatte, auf einen sehr fruchtbaren Nährboden fiel.

Wenn man im 15. Jahrhundert mit dem Schiff von Konstantinopel nach Italien reiste, brauchte man dafür mehrere Wochen. In dieser Zeit hatte Nikolaus also reichlich Gelegenheit für leidenschaftliche Diskussionen mit den griechisch-orthodoxen Top-Intellektuellen der damaligen Zeit, den Platonikern.

Über seinen plötzlichen kreativen Durchbruch auf der Schiffsreise von Konstantinopel, wo sie 1437 abfuhren und 1438 ankamen, sagte er: „Ich hatte plötzlich eine göttliche Eingebung, und ich konnte alle Fragen in einem völlig anderen Licht sehen.“ Dies war der Ausgangspunkt für die Coincidentia Oppositorum. Cusa schrieb sehr selbstbewußt: „Ich denke jetzt etwas, was kein Mensch je zuvor gedacht hat.“ In dem Brief vom 14. September 1453 sagte er, die Nichtakzeptanz widersprüchlicher Behauptungen sei das gemeinsame Axiom aller bisherigen Philosophien, nicht nur die des Aristoteles, er sei nur der deutlichste gewesen.

Das Prinzip der belehrten Unwissenheit in De docta ignorantia

Dann schrieb er seine zweite große Schrift, De docta ignorantia (Abbildung 10). Obwohl er sie erst 1440 verfaßte, hatte er die darin aufgezeigten Ideen schon während der Schiffsreise entwickelt. Am Anfang dieses Buches sagt er, die Menschen kennen alle den Hunger, der ein sehr unangenehmes Gefühl im Magen verursacht. Normalerweise verlangen sie nach Nahrung, um sich zu stärken. Nun hat das Staunen, die Neugier, eine ähnliche Wirkung auf den Geist, denn es ist die Ursache für das Philosophieren. Das Seltene, das Außergewöhnliche, ist enorm und beeindruckt uns. Indem wir versuchen, es zu begreifen, streben wir nach Wahrheit, und das vervollkommnet den Geist. Die Eigenschaften aller Dinge, entstanden durch göttliches Geschenk, bestehen darin, daß sie den natürlichen Wunsch haben, auf die bestmögliche Art und Weise zu existieren, entsprechend ihrer Potentialität.

Originalhandschrift der De docta ignorantia.
Abbildung 10. Originalhandschrift der De docta ignorantia.

Das ist ein Gedanke, den Sie vielleicht später bei Leibniz wiedererkennen. Auch er sagt, es sei die vorgegebene Harmonie der Schöpfung, daß jedes Wesen und jede Existenz danach strebt, sich in der bestmöglichen Form im Universum zu entwickeln.

Nikolaus fährt fort: Wenn der Verstand etwas untersucht, dann vergleicht er das, was absolut sicher ist, mit den neuen unbekannten Phänomenen. Diese Methode der Untersuchung nennt Cusa die belehrte oder die wissende Unwissenheit. Er sagt, daß man naturgemäß mit der Größe einer Messung beginnt. Das Maximum ist das Eine, da es alles enthält. Aber da es nur das Eine ist und es nichts anderes gibt, ist es auch das Minimum.

Das ist ein Gedanke, den man erst einmal einwirken lassen muß. Im ersten Buch der De docta igorantia untersucht er das Maximum in der Sicht aller Menschen. Dieses Maximum ist ohne Zweifel Gott, denn Gott ist die absolute Unendlichkeit. Im zweiten Buch erörtert er, wie das Maximum auch das Maximum der verschlungenen Existenz ist, ein anderes Wort für das Universum. Das Wort als die entfaltete Unendlichkeit im Raum, und im dritten Buch das absolute Maximum in der Pluralität, das sowohl das Maximum als auch das Verschlungene ist – Jesus Christus, der göttliche Mensch, in dem sich beides vereint. Das Maximum, das verschlungene Maximum, ist in der Person Jesu Christi vereint.

Denjenigen unter Ihnen, die nicht religiös sind, braucht das keinen Schrecken einzujagen. Als ich selbst vor vielen Jahren damit begann, mich mit Nikolaus zu beschäftigen, hatte ich auch einige Schwierigkeiten. Am Anfang habe ich mir die Gedanken herausgepickt, die ich für spannend und faszinierend hielt. Einige andere Gedanken ließ ich weg, weil ich sie für nicht so notwendig hielt. Ich habe zum Beispiel das gesamte dritte Buch der De docta ignorantia weggelassen, weil ich meinte, das sei zu religiös. Später erkannte ich, daß das wirklich dumm war, denn man muß sich diesen Schriften schrittweise nähern, und je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, desto mehr erkennt man. Man muß dafür kein Fundamentalist sein. Es ist nicht etwas, aus dem man zitiert und dann nominalistisch interpretiert. Aber wenn man sozusagen zwischen die Noten schaut, wenn man versteht, daß es sich um Konzepte voller Metaphern handelt, dann kann man tatsächlich eine philosophische Bedeutung erfassen, die wirklich revolutionär ist.

Denn Nikolaus von Kues vertrat eine Denkmethode, die einen völligen Bruch mit dem Mittelalter darstellte. Er war der Vater der modernen Wissenschaft, der Vater des modernen Nationalstaates. Und wenn man einmal hinter die Dinge vordringt, die am Anfang irgendwie „religiös“ erscheinen, dann kann man ihre Bedeutung tiefer erfassen, aber man sollte sich bemühen, sie auf eine höhere Art zu verstehen.

Im Grunde kann man die Bedeutung hinter den Worten erschließen, wenn man so vorgeht. Wenn man diese Beispiele im übertragenen Sinne als Metaphern versteht, wofür man den Bereich der Sinne verlassen muß, um zu einem einfachen Verständnis zu gelangen, dann ist es offensichtlich, daß es keine Beziehung zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen geben kann. Daher kann der endliche Verstand die unendliche Wahrheit nicht erreichen. In De docta ignorantia, Buch 1, Kapitel III, schreibt er:

Der Geist also, der nicht die Wahrheit ist, erfaßt die Wahrheit niemals so genau, daß sie nicht ins Unendliche immer genauer erfaßt werden könnte. Er verhält sich zur Wahrheit wie das Vieleck zum Kreis. Je mehr man man die Zahl der Ecken in einem eingeschriebenen vermehrt, desto mehr gleicht es sich dem Kreise an, ohne ihm je gleich zu werden, wollte man auch die Vermehrung der Eckenzahl ins Unendliche fortführen. Das Vieleck müßte sich dazu schon umbilden zur Identität mit dem Kreis.

Dies ist die berühmte Quadratur des Kreises. Kann man einen Kreis aus einem Polygon bilden? Nikolaus diskutiert diesen Versuch des Archimedes, dem es nicht gelang, dieses Problem auf offensichtliche Weise zu lösen. Er wies darauf hin, daß, selbst wenn man dem Polygon unendlich viele Winkel hinzufügt, man immer noch nicht den Kreis erreicht. Daher muß man eine Art Gedankensprung machen und den Kreis denken, der von höherer Qualität ist. Nikolaus verweist dann auf Pythagoras, auf den Platoniker Augustinus und auf Boethius. Sie alle verwendeten Zahlen und Mathematik, um die Seele, die Unsterblichkeit und die Wahrheit zu erforschen. Er zitiert den berühmten Philosophen Anselm, der die größte Wahrheit mit einer unendlichen Geradheit vergleicht. Dies ist ein pädagogischer Weg. Und auch Nikolaus hielt diese Methode für völlig legitim, denn alle die genannten früheren Denker haben versucht, sich so der Wahrheit zu nähern.

Er sagte, man könne die Dreifaltigkeit mit einem Dreieck aus drei gleichen Seiten und drei rechten Winkeln vergleichen. Können Sie sich ein solches Dreieck vorstellen, das ja aus unendlich langen Seiten bestehen muß? Man kann es ein unendliches Dreieck nennen, und wir können dem zustimmen. Andere verglichen Gott mit einer unendlichen Linie oder einer unendlichen Kugel. Und sie alle dachten in der richtigen Weise über das Maximum nach. In De docta ignorantia 1, XIII, schreibt er:

Ich sage also: gäbe es eine unendliche Linie, so wäre sie eine Gerade, ebenso ein Dreieck, Kreis und Kugel; und gleicherweise: gäbe es eine unendliche Kugel, so wäre sie Kreis, Dreieck und Linie. Die erste Behauptung, daß die unendliche Linie eine gerade sei, erhellt folgendes: Der Durchmesser des Kreises ist eine gerade Linie, der Umkreis ist eine gekrümmte Linie, die größer ist als der Durchmesser; wenn also die Krümmung der gekrümmten Linie, je mehr diese der Umkreis eines größeren Kreises wird, sich verringert, so ist der Umkreis des größten Kreises, der nicht mehr größer sein kann, am wenigsten gekrümmt, daher am meisten gerade. Es koinzidiert also das Kleinste mit dem Größten, so daß es augenscheinlich ist, daß die größte Linie die geradeste und am wenigsten gekrümmte sein muß. Darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Man kann es aus der nebenstehenden Figur sehen (vgl. Abbildung 11.1), wo der Bogen CD des größeren Kreises eine geringere Krümmung hat als der Bogen EF des kleineren Kreises, und dieser wieder eine geringere als der Bogen GH des noch kleineren Kreises. Daher wird die gerade Linie AB der Bogen jenes Kreises sein, der nicht mehr größer sein kann, d. h. des größten. So sieht man, daß die größte und unendliche Linie, die völlig gerade Linie, der die Krümmung nicht entgegengesetzt wird, sein muß; ja sogar, daß die Krümmung in der größten Linie Geradheit ist. Das ist das, was zuerst zu erweisen war.

An zweiter Stelle wurde gesagt, daß die unendliche Linie das größte Dreieck, der größte Kreis, und die größte Kugel sei. Um dies aufzuweisen ist es notwendig, daß wir in den endlichen Linien sehen, was in der Möglichkeit einer endlichen Linie liegt. Und weil, was in der endlichen Linie Möglichkeit ist, in der unendlichen Wirklichkeit ist, wird uns das, was wir suchen, deutlicher werden. Zunächst wissen wir, daß die in der Länge begrenzte Linie länger und gerader sein kann, und es wurde schon bewiesen, daß die größte Linie die längste und geradeste ist. Weiters wissen wir: wenn die Linie AB so weit herumgeführt wird, daß B nach C gelangt und A dabei unverändert bleibt, so entsteht ein Dreieck (vgl. Abbildung 11.2). Wenn diese Umführung aber vollendet wird, bis B in seine Anfangsposition zurückkehrt, entsteht ein Kreis. Wenn man wiederum – bei unbeweglichem A – den Punkt B herumführt, bis er zu dem seiner Anfangsposition entgegengesetzten Punkt D kommt, so ist aus der Linie AB und AD eine zusammenhängende Linie gebildet und ein Halbkreis beschrieben worden. Und wenn man schließlich, bei bleibendem Durchmesser BD, den Halbkreis herumführt, entsteht eine Kugel. Und diese Kugel ist das Letzte aus der Möglichkeit der Linie, die ganz in Wirklichkeit besteht, da die Kugel in sich zu keiner weiteren Figur die Möglichkeit hat. Wenn also in der Möglichkeit der endlichen Linie jene Gebilde liegen und die unendliche Linie das alles in Wirklichkeit ist, zu dem die endliche die Möglichkeit hat, so folgt, daß die unendliche Linie Dreieck, Kreis und Kugel ist; und dies sollte ja erwiesen werden. Weil man aber wahrscheinlich noch deutlicher sehen möchte, daß jenes, was in der Möglichkeit des Endlichen liegt, als Wirklichkeit das Unendliche ist, werde ich dazu noch sicher überzeugende Beweise liefern.

Übergang der Kreiskrümmung in die unendliche Linie.
Abbildung 11.1. Übergang der Kreiskrümmung in die unendliche Linie.
Der Übergang von Linie zu Dreieck, Halbkreis und Kugel.
Abbildung 11.2. Der Übergang von Linie zu Dreieck, Halbkreis und Kugel.

Hier erörtert Nikolaus also zum ersten Mal, daß das Maximum, die unendliche Linie, das unendliche Dreieck, die unendliche Kugel das Größte ist, daß es auch mit dem Kleinsten, dem Minimum, in eins fällt – das Zusammenfallen der Gegensätze. In De docta ignorantia 1, 14 sagt Nikolaus, daß ein Denkprozeß, der die Ebene der Sinne nicht überschreitet, nicht versteht, daß eine Linie auch dreieckig sein kann, denn wenn man nur auf die Sinnesgewißheit schaut, protestiert der Verstand und sagt, nein, das ist eine Linie und kein Dreieck oder ein Dreieck oder eine Kugel. Aber für den begreifenden Denkprozeß, wie Nikolaus ihn nennt, ist es einfach. Da die zwei Seiten eines Dreiecks nicht kürzer sein können als die dritte, folgt daraus, daß ein Dreieck, bei dem eine Seite unendlich ist, die anderen beiden Seiten unendlich sein müssen. Und da es nicht mehrere Unendliche geben kann, fallen sie alle in eins.

„Die Welt war immer zu jeder Zeit“

Dies ist die Einführung des Unendlichen in die geometrischen Berechnungen. Man kann tatsächlich sagen, daß Nikolaus das vorbereitet, was bei Leibniz zur Infinitesimalrechnung werden wird, die Messung von Krümmungen und Flächeninhalten.

Sie enthält auch die Idee der Ewigkeit des Universums. So schreibt er in einer Predigt – viele der hervorragenden Durchbrüche von Nikolaus erfolgten übrigens auch in Predigten – vom 6. Januar 1456:

Außerdem können wir sagen, daß, weil Gott die Ewigkeit ist, die Zeit insofern von ihm abstammt, als die zeitliche Welt von der Ewigkeit, d. h. von Gott, ist und immer war. Die Welt war immer zu jeder Zeit.

Das entsprach natürlich nicht dem Alten Testament, worin es heißt, die Welt sei in sechs Tagen von Gott erschaffen worden. Nun muß man sich vorstellen, daß man im 15. Jahrhundert solche Dinge nicht einfach äußern konnte, denn die päpstliche Autorität schrieb die Auslegung dieser Texte vor. Im März 1329 gab es eine päpstliche Verkündigung mit dem Namen In agro domenico, herausgegeben von Papst Johannes XXII. In ihr werden die 28 Thesen von Meister Eckhart verurteilt. Meister Eckhart war, kann man sagen, eine Mischung aus einem Platoniker und einem Mystiker, aber dieser Begriff muß diskutiert werden, weil er heute auch anders verstanden wird. Von diesen 28 Thesen wurden 17 als häretisch und 11 als der Häresie verdächtig erklärt. Nikolaus mochte Meister Eckhart, er besaß seine Handschriften ab 1440.

Das war das Jahr, in dem er De docta ignorantia fertigstellte, und er schrieb dazu mehrere Kommentare. Einer davon war Cave! – Sei vorsichtig. Das ist eine Anmerkung in der De docta ignorantia. Auf der rechten Seite befinden sich viele handschriftliche Notizen oder Kommentare von Nikolaus, wie der oben genannte (Abbildung 12). Diese Notizen sind wirklich sehr nützlich, denn damals gab es kein Internet, man konnte nicht googlen, man mußte all diese Gedanken mit der Hand schreiben. Diese ganzen Dokumente durchzugehen, war also eine gigantische geistige Anstrengung. Das Schöne an diesen Dokumenten in seiner Bibliothek ist, daß Cusa viele der Originalschriften all dieser Denker besessen hat. Er hat diese Notizen am Rande gemacht, und so kann man tatsächlich sehen und studieren, wie er sie interpretiert hat und zu welchem Schluß er gekommen ist.

Seite einer Abschrift von Proklos' Parmenides-Kommentar in lateinischer Übersetzung mit eigenhändigen Randbemerkungen des Nikolaus von Kues (aus der Bibliothek des Sankt-Nikolaus-Hospitals).
Abbildung 12. Seite einer Abschrift von Proklos‘ Parmenides-Kommentar in lateinischer Übersetzung mit eigenhändigen Randbemerkungen des Nikolaus von Kues (aus der Bibliothek des Sankt-Nikolaus-Hospitals).

Wenn man behauptet, das Wort sei schon ewig da, stellt man die sechstägige Schöpfung in Frage. Und wie Sie bei einigen Personen wie Giordano Bruno und anderen sehen können, ist das nicht so gut für sie ausgegangen. Auf jeden Fall kam Nikolaus zu dem Ergebnis, daß das Universum unendlich ist, daß es weder einen Umfang noch ein Zentrum hat. Nikolaus hatte diese Ideen also lange vor Kopernikus oder Galilei entwickelt. Den Blick aufs Meer, den Nikolaus vom Schiff aus hatte, das von Konstantinopel nach Italien fuhr, kann man natürlich überall auf dem Ozean haben. Jeder, der schon einmal eine Reise über den Ozean gemacht hat, wird sich sehr genau daran erinnern oder spüren, daß das, was wie eine gerade Linie aussieht, nämlich der Horizont, in Wirklichkeit ein Kreisumfang ist. Und wir wissen, daß die Erde keine flache gerade Linie oder nur zweidimensional ist, sondern eine Kugel. Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß Nikolaus diesen Durchbruch über das Zusammenfallen von Gegensätzen gemacht hatte, weil er mit den führenden Intellektuellen seiner Zeit zusammen saß, wie Plethon oder Bessarion. Sie diskutierten die Ideen Platons und die Einheit der Kirche. In diesem Umfeld wurde er zu seinen Ideen inspiriert oder es trug dazu bei, sie zu entwickeln.

Kepler nannte Nikolaus den „göttlichen Cusa“. Und offensichtlich erforderte Keplers Idee, einen Durchbruch bei der Gravitation zu erzielen, die Ansicht von Kopernikus aufzugeben. Die Idee, nach der entweder die Erde oder die Sonne das Zentrum des Universums sei, war nicht weiterführend. Man mußte ein völlig anderes Prinzip anwenden. In diesem Sinne bereitete Nikolaus also den Boden für Kepler, der Nikolaus so sehr schätzte, daß er ihn göttlich nannte.

Der russische Wissenschaftler Wladimir Wernadskij nannte ihn Kusanskij als den großen Wegbereiter. Nikolaus ist natürlich in Rußland unter dem Namen Kusanskij bekannt. Und er ist dort viel berühmter als im Westen, was für die russische Wissenschaft spricht.

Nun ist das Konzept des Zusammenfallens der Gegensätze kein statisches oder nur geometrisch zu verstehendes Konzept, sondern es begreift die Evolution des Universums als Einheit. Wir hatten gesehen, daß Gott die absolute Einheit und Größe – „maximatus“ – ist, das Universum „unitas universi“, und das Universum in seiner Vielheit, „unitas contracta“. Jesus Christus ist also die Inkarnation der vereinigten Menge – der „maximus contractus“.

In diesem Universum gibt es eine hierarchische Ordnung der höheren und der niederen Arten, und sie alle sind durch einen Artensprung getrennt. Nun sagt Nikolaus, kein Individuum einer Art ist vollendet, solange es nur seiner eigenen Art angehört. Es wird erst dann voll akzentuiert, voll entwickelt sein, wenn es an der nächsthöheren Art teilnimmt. Für den Menschen bedeutet das, daß er an Gott teilhaben muß. Das ist eine Eigenschaft des Menschen, die Nikolaus „capax Dei“ nennt, die Teilhabe an Gott. Er beschreibt diese Entwicklung als ein emporgerissenes Aufsteigen auf eine höhere Ebene. Und auch das Verhältnis des Anorganischen zu den Pflanzen und der Pflanzen zum Tier vollzieht sich im Grunde auf diese Weise. Das Potential der niederen Art kommt erst dann voll zur Geltung, wenn sie an einem höheren Existenzprinzip teilhat.

Cusa-Renaissance

Professor Haubst war ein großer Gelehrter, der das Cusanuswerk mit ins Leben gerufen hat, das sich in Trier in der Nähe des Doms in einer wunderschönen Villa befindet; dort hatte er sein Büro. Ich habe ihn dort viele Male besucht, und er war einer der Menschen, die dazu beigetragen haben, die weltweite Renaissance des Cusanus ab den 1970er Jahren auszulösen. Auch in verschiedenen Sprachen findet man inzwischen jede Menge Gelehrte, die sich für Nikolaus von Kues begeistern. Aber Professor Haubst, der in Mainz Theologie lehrte, war derjenige, der viele der cusanischen Handschriften in einer unglaublichen Leistung entdeckt hat. Er wußte zum Beispiel durch seine Studien, daß bestimmte Handschriften in einer privaten Bibliothek in London verborgen sein mußten. Also schickte er zwei Assistenten dorthin, die die Handschriften tatsächlich fanden. So legte er eine unschätzbare Sammlung an, und er begann, das jährliche Cusanus-Symposium zu veranstalten, an dem ich in den frühen 1970er Jahren teilnahm. Im weiteren Verlauf entwickelte ich eine echte Freundschaft zu Professor Haubst. Er prägte den Begriff des „biogenetischen Gesetzes der Evolution bei Cusa“. Eine unglaubliche Idee, daß man im 15. Jahrhundert ein Konzept der Evolution hatte, das auf theologischen Überlegungen beruhte. Dies ist genau das, was Evolution wirklich war, nämlich das höhere Schöpfungsprinzip, das auf das niedrigere einwirkt, so wie der Geist die Biosphäre formt. Die Noosphäre ist mächtiger als die Biosphäre. Die Biosphäre ist mächtiger als die anorganische, aber es setzt jemanden voraus, der nicht das darwinistische Überleben des Stärkeren repräsentiert, sondern das wahre Konzept der Evolution. Sie finden somit in den Werken von Cusa einen weiteren Baustein für ein völlig neues Denken, das ich extrem interessant finde.

Prof. Rudolf Haubst hatte das Cusanuswerk mitgegründet. Bild: Universitätsarchiv Mainz.
Prof. Rudolf Haubst hatte das Cusanuswerk mitgegründet. Bild: Universitätsarchiv Mainz.

Der Laie über den Geist

Das Maximierungsprinzip ist keine Entwicklung von unten nach oben, und in Idiota de mente (Der Laie über den Geist) entwickelt Nikolaus die Idee, daß die Erkenntnis Gottes vom „mens“ ausgeht, das lateinische Wort für den Geist, der das Abbild Gottes auf allen unteren Ebenen ist. Und das versetzt den Menschen in eine einzigartige Position.

Der unglaubliche Gedanke dabei ist, daß der menschliche Verstand durch Gott Zugang zur Welt findet, weil der Mensch „imago viva Dei“ ist. Und Gott setzt den Schöpfungsprozeß durch die „vis creativa“, die schöpferische Kraft des Menschen, fort. Aus diesem Grund hat Lyn immer geschrieben und gesagt, daß das Universum der schöpferischen Vernunft des Menschen gehorcht, wenn der Verstand angemessene Hypothesen entwickelt.

In Idiota de mente entwickelt Nikolaus die Idee der unendlichen Vollkommenheit des Geistes.

Der Beryll als Allegorie

Eine andere faszinierende Schrift des Nikolaus ist De beryllo (Über den Beryll) – eine Allegorie für ein Brillenglas aus Beryll, einem Mineral, das aussieht wie ein Edelstein. Dabei ist das Beryll sowohl konkav als auch konvex geschliffen, d. h. nach innen und nach außen gekrümmt. Nach Cusanus entspricht dies auch dem Zusammenfallen von Gegensätzen.

Nach Nikolaus gibt es vier Ebenen der Erkenntnis: Neben den Sinnen, dem Verstand und der Vernunft („Ratio“, also dem Intellekt) gibt es noch eine vierte Ebene, die er „Visio“ nennt. In De beryllo zitiert er Hermes Trisgemistos. Seine Texte sind nicht ganz authentisch, auch der Eigenname nicht, aber die Ideen sind authentisch. Von ihm stammt der unglaubliche Satz, der Mensch ist ein zweiter Gott. So wie Gott der Schöpfer des physischen Universums ist, so ist der Mensch der Schöpfer der Begriffe, der Ideen. Cusa schreibt zu Beginn von De beryllo, daß er oft über das Zusammenfallen von Gegensätzen spricht. Er habe sich sehr darum bemüht, ihre Bedeutung zu vermitteln, weil es ein schwieriges Konzept ist, und die Menschen geistige Blockaden haben, die es zu überwinden gilt. Dann warnt er:

Der Grund aber, warum sowohl Platon in seinen Briefen, als auch der große Dionysios es verboten, solche Geheimnisse denjenigen, welchen geistige Erhebung unbekannt ist, mitzuteilen, war der, daß diese nichts lächerlicher finden als solche erhabenen Dinge.
Der dem Tierischen verhaftete Mensch erfaßt die göttlichen Geheimnisse nicht. Wessen Geist jedoch darin geübt ist, dem wird nichts Ersehnenswerteres begegnen. […]

Dann zitiert er noch einen anderen griechischen Denker, Protagoras, der sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Das ist auch ziemlich unglaublich. Und er definiert, daß die erkennende Seele das Ziel von allem Erkennbaren sei. Er zitiert wieder Hermes Trismegistos, der sagt, der Mensch sei ein zweiter Gott, so wie Gott der Schöpfer des physischen Universums, des wahren Seins und der natürlichen Formen ist – ist Mensch der Schöpfer der Ideen. Das hat eine Ähnlichkeit mit der göttlichen Schöpfungstätigkeit. Der Mensch ist also „imago viva Dei“, das lebendige Abbild Gottes. Nicht Gott lebt, sondern es ist das Bild, das lebt. Das ist sehr wichtig. „imago viva Dei“ bedeutet lebendiges Abbild Gottes. Denn das Bild ist kein totes Bild, es ist ein lebendiges Bild, weil es den Prozeß der Schöpfung fortsetzt. Und das ist möglich, weil der Mensch die „vis creativa“ hat, die schöpferische Kraft, weil er an Gott teilhaben kann – „capax Dei.“

Mit diesem Verständnis kann man einen Philosophen immer nach seinem Menschenbild beurteilen. Wenn man nun bedenkt, welches Menschenbild zum Beispiel die Vertreter der englischen Aufklärung hatten – Locke, Hobbes usw. –, dann ist der Mensch eine Bestie. Man braucht den starken Staat, um das Böse einzudämmen. Privates Übel schafft öffentliches Gut – sagt Mandeville, also weil es Verbrechen gibt, schafft es den Anwälten Einkommen, wie praktisch. Auf der anderen Seite stehen Schiller und sein Bild des Menschen als schöne Seele. Humboldt hat die Schönheit des Charakters beschrieben, die durch Bildung erreicht werden kann. Das Bild des Menschen ist wirklich das, nach dem man den Philosophen beurteilt. Und Nikolaus ist für mich einer der Menschen, die das positivste Menschenbild haben.

Das hat mich in der Frage nach Jesus Christus getröstet. Wenn man es philosophisch betrachtet, die Gläubigen dürfen es gerne religiös betrachten, dann ist es die Idee, nach der die Inkarnation Gottes in der Person von Jesus Christus ihn an allen Eigenschaften des Schöpfers teilhaben läßt. In dieser Manifestation der grenzenlosen Vollkommenheit liegt die stärkste Feststellung der schöpferischen Identität der menschlichen Person. Und Nikolaus sagt, wenn der Mensch schöpferisch ist, ist er der zweite Gott. Er ist göttlich.

Nikolaus bedient sich also in seinen Schriften einer eindeutigen sokratischen Pädagogik, um den Leser von etwas scheinbar Offensichtlichem zu den höchsten kognitiven Einsichten zu führen. Denn der Mensch ist, so wie ich ihn definiert habe, ein Mikrokosmos, der in seinem Denkprozeß dem Makrokosmos entspricht. Deshalb kann der menschliche Geist Ideen realisieren, die den Makrokosmos beeinflussen. In modernen Begriffen würden wir sagen, die Idee, die der menschliche Geist erzeugt, kann eine wissenschaftliche Entdeckung hervorbringen. Aber nur, wenn sie als Technologie im Produktionsprozeß angewandt wird, kann sie zu einer höheren Produktivität und einem höheren Lebensstandard der Menschen führen, einer höheren Lebenserwartung und damit zu einer Veränderung des physikalischen Universums. Lyn hat das in so vielen Schriften beschrieben – aber Sie finden hier bei Cusa den Grund, warum das möglich ist, warum eine immaterielle Idee im Mikrokosmos eine physikalische Wirkung im Makrokosmos hat.

Später wird dies auch in einer anderen Form von Leibniz erörtert. Bei ihm ist jeder Mensch eine Monade, die im Prinzip die Gesetzmäßigkeit des gesamten Universums enthält, und das ist das Abbild des Göttlichen.

LaRouche und das Globusspiel

In einer anderen, sehr unterhaltsamen Schrift, Gespräch über das Globusspiel, spricht Nikolaus von einer dreifachen Welt – der kleinen, die des Menschen, der großen, die des Universums, und der größten, die Gott ist. Der Mensch ist sowohl eine kleine als auch eine vollständige Welt, da er an dem größeren Universum teilnimmt. Da es nur ein Universum geben kann, befindet sich der Mensch also nicht außerhalb des Universums. Er ist sowohl eine separate, vollständige Welt, als auch gleichzeitig Teil des großen Universums. Die Erfüllung des Menschen ist seine Selbstvervollkommnung und die Ebenbildlichkeit mit Gott.

Lyn und ich waren viele Male in Bernkastel-Kues, besuchten die Bibliothek, besuchten das Geburtshaus. Einmal wurden wir von einem sehr lieben Freund begleitet, einem hochrangigen Gelehrten aus dem Vatikan. Und wir spielten das Globusspiel, ein weiteres dieser pädagogischen Mittel von Nikolaus. Das Spiel geht so: Man hat eine Kugel, die in ihrer Form eine konvexe und eine konkave Oberfläche hat. Wenn man sie wirft, bewegt sie sich nicht in geraden Linien, sondern in Spiralen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind auf dem Boden neun konzentrische Kreise mit einem Mittelpunkt aufgezeichnet, und man muß die Kugel so werfen, daß sie so nah wie möglich an den Mittelpunkt der Kreise kommt (Abbildung 13). Das erfordert einiges an Geschick und auch ein bißchen Glück.

Wir gingen also mit unserem Gast zu dem Spielfeld und diskutierten über die Ideen des Cusanus. Wir begannen mit dem Globusspiel, das bei dem Geburtshaus des Cusanus für die Besucher zur Verfügung steht. Unser Freund hat den Mittelpunkt völlig verfehlt, und der Ball ist irgendwo in einer Ecke gelandet. Mir ging es ebenso, und dann hat Lyn ihn geworfen, und er ging genau in die Mitte. Ich persönlich denke, daß es ein glücklicher Zufall war, aber Lyn war davon überzeugt, er beherrsche das Prinzip, und das hat er vielleicht auch. Diese Frage wird wahrscheinlich nie beantwortet werden, aber es hat viel Spaß gemacht. Es macht sehr viel Spaß, weil man durch ein einfaches Spiel zu den tiefgründigsten Ideen über Gott, das Universum, die Schöpfung und die Natur des Menschen gelangen kann.

Globusspiel
Abbildung 13. Ziel des von Nikolaus von Kues entwickelten Globusspiels ist es, eine konkav ausgehöhlte Kugel (also eine Kugel mit „Delle“) so zu werfen, daß sie in einer Spiralbewegung möglichst nahe an das Zentrum des Kreises herankommt. Bild rechts: Gespräch über das Globusspiel, Meiner Verlag, S. 145.

Vom Sehen Gottes

Es gibt noch eine andere sehr nützliche Schrift, eine seiner späteren Schriften, De visione Dei (Vom Sehen Gottes). Sie wurde von Nikolaus auf Bitten des Abtes und der Mönche des Klosters vom Tegernsee geschrieben, mit denen ihn eine jahrzehntelange Freundschaft verband. Und sie baten ihn wiederholt: Hilf uns, das Konzept des Zusammenfalls der Gegensätze zu verstehen, denn es ist ein schwieriges Konzept. Kannst du nicht etwas darüber schreiben, damit wir es alle verstehen können? Und so schrieb Nikolaus diese Abhandlung. Es ist in der Tat ein pädagogisch sehr schönes Werk, das Sie lesen sollten.

Am Anfang schreibt er: Ihr wißt alle, daß es viele Renaissance-Gemälde gibt. Er nennt mehrere von ihnen, von welchen Orten sie stammen und wo sie aufbewahrt werden: Einige dieser Gemälde haben – in diesem Fall ist es das Bild von Jesus Christus – eine Perspektive, bei der man, egal von wo aus man das Bild betrachtet, immer das Gefühl hat, daß es einen direkt persönlich anschaut. Also bittet er die Mönche, dieses Bild in den Hintergrund des Raumes zu rücken und dann einen Halbkreis darum zu bilden, die einen links von ihm, die anderen rechts. Dann seine Frage: Ist es nicht so, daß ihr alle das Gefühl habt, daß dieses Bild nur euch persönlich anschaut, egal wo ihr steht? Dabei könnt ihr euch vor und zurück bewegen – in jeder Position werdet ihr dieses Gefühl haben. Im weiteren führt er aus, wie das möglich ist und wie er zu dem Bild kommt, das er dann die „Wand des Zusammenfallens der Gegensätze“ nennt.

Er sagt weiter, wenn das Frühere mit dem Späteren und das Ende mit dem Anfang zusammenfällt, das Alpha mit dem Omega, dann würde er zur Demonstration dieses Bild der Mönche benutzen, die in dem Raum herumgehen. Man befindet sich dann an der Wand der Koinzidenz, jedoch noch nicht an der Koinzidenz der Gegensätze. Dafür brauchst du noch einen weiteren Schritt. Ihr müßt geistig über diese Mauer springen, um hinter sie zu sehen und an der Koinzidenz der Gegensätze teilzuhaben, die es nur in Gott gibt.

Die Idee des Zusammenfallens des Früheren und des Späteren, des Endes und des Anfangs, des Alpha und des Omega ist es, was Lyn in mehreren Schriften als die Gleichzeitigkeit der Ewigkeit beschreibt.

Ich möchte es erst einmal dabei belassen. Ich hoffe, ich habe Ihnen den Appetit geweckt, damit Sie anfangen, diese Schriften zu lesen, an die man sich erst nur schwer gewöhnen kann. Am Anfang wird man sich fragen, was das für eine Sprache sei. Aber wenn man sich einmal der geistigen Übung hingibt, der „manductio“, wie Prof. Haubst es nannte, des Cusanus zu folgen, wird man die Dinge in einem ganz anderen Licht sehen. Dann bleibt man definitiv nicht in der geopolitischen Konfrontation stecken. Man wird immer die höhere Ebene der Einheit erkennen, auf der ein Konflikt gelöst werden kann. Und deshalb denke ich, daß diese Methode des Denkens, des Zusammenfalls der Gegensätze, eine pädagogische Hilfe ist, um jedes Problem auf dem Planeten jetzt und in Zukunft zu lösen.