Kann uns ein Künstler wie Beethoven heute Vorbild sein?

Den folgenden Vortrag hielt Christa Kaiser auf dem BüSo-Parteitag in Garching am 22.10.2023.


Wenn wir auf die Weltbühne blicken, sehen wir Kanzler Olaf Scholz als Waffenlieferant und Kriegstreiber. Der brasilianische Präsident Silva de Lula hingegen drängte auf der UN-Vollversammlung die Regierungschefs, die Resignation der Welt zu überwinden. „Nur mit dem unerschütterlichen Glauben an die Menschheit“ könnten wir der Krise der Welt entgegentreten und Hunger, Armut und Ungleichheit der Menschen überwinden. Welch ein anderes Menschenbild spricht aus ihm!

Wer kann sich dann noch vorstellen, daß Deutschland einmal eine Hochkultur besaß, wenn wir Zeuge nie gekannter und nicht enden wollender Dramen sind, die die gegenwärtige Weltbühne uns bietet.

Ich möchte Sie aber jetzt kurz in die faszinierende Frühgeschichte der Menschheit entführen. Wenden wir unsere Augen einer Merkwürdigkeit zu, die so gar nicht in die Pflichten und Notwendigkeiten des Alltags zu passen scheint. Haben Sie sich schon einmal über die Wandmalereien von Tieren in der Höhle von Lascaux in Südfrankreich gewundert?

Wandmalereien der Höhle von Lascaux. Bild: Wikipedia/Jack Versloot
Wandmalereien der Höhle von Lascaux. Bild: Wikipedia/Jack Versloot

Vor etwa 20.000 Jahren, in der Jungsteinzeit, war das Leben alles andere als luxuriös. Die Gegenwart des notwendigen und unentbehrlichen Jagdlebens verlangte den ganzen Einsatz. Dennoch war Zeit für das Schöne, um der Härte des Alltags die Schwere zu nehmen und den Dingen Zauber zu verleihen. Bis heute empfinden wir dabei Verwunderung und Freude.

Es muß also ein schöpferischer Trieb des Menschen existieren, seine ihn umgebende Natur zu gestalten. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die frühen Künstler nicht nur die Natur kopiert haben, sondern eigene Formen hervorbrachten. Es geht also um nichts weniger als die Schöpferkraft des Menschen, wie sie von großen Künstlern gefeiert wird.

Ist uns diese Schöpferkraft abhanden gekommen? Der Absturz unserer Jugend in Brutalität, Jugendgewalt, einer leistungsunwilligen Nullbockgeneration, die Zunahme der Rauschgiftsüchtigen und der Kult der Häßlichkeit, sind nur ein Schattenbild, daß wir die Begeisterung des Fortschreitens verloren haben.

Anstatt uns als Suchende den besten Lehrern wie Friedrich Schiller oder Beethoven anzuvertrauen, suchen wir Entspannung und Unterhaltung im Internet, den sozialen Medien oder bei Netflix, also im Netz der Oligarchie. Es geht nicht darum, Beethoven auf den Sockel zu stellen und ihn wie eine Ikone zu verehren, sondern seiner Antriebskraft auf die Spur zu kommen.

Beethoven und Goethe (hinten links) in Teplitz. Lithographie von Carl Röhling (1887). Beethoven: „Goethe behagt die Hofluft zu sehr, mehr als es einem Dichter ziemt…“
Beethoven und Goethe (hinten links) in Teplitz. Lithographie von Carl Röhling (1887). Beethoven: „Goethe behagt die Hofluft zu sehr, mehr als es einem Dichter ziemt…“

Beethoven hatte das Glück, von Kindesbeinen an zwei Welten kennen zu lernen. Einerseits den Feudalismus mit seiner Knechtung des Volks – andererseits die Freiheitsideen der amerikanischen Revolution. Die feudalen Herrscher besaßen das angebliche „Gottesgnadentum“. Sie waren die Auserwählten. Aus Laune konnten sie Kriege anzetteln, Landeskinder als Soldaten verkaufen und willkürlich Steuern abpressen.

Ihre Verbrechen kannten keinen Richter. Ihre Lüste konnten sie ungehemmt ausleben. Bei Jungvermählten besaßen sie das Recht auf die erste Nacht. Das Volk darbte in Armut und Unwissenheit.

Die andere Welt, die Welt der Ideen, lernte Ludwig bereits mit 14 Jahren kennen. Es waren die Ideen der Freiheit und des Glücks für jeden, wie sie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verkündet worden waren. Als Sohn eines Hofsängers war er mit der Schönheit und Harmonie der Musik vertraut, aber die Herausforderung an seine wachsende Persönlichkeit waren die Debatten über die revolutionären Umwälzungen jenseits des Atlantiks. Zu dieser Zeit wurde er als Hoforganist angestellt und erhielt dadurch Zutritt zur republikanischen Elite.

Sein Klavierlehrer war der hervorragende Kenner von Johannes Sebastian Bach und Kosmopolit Christian Neefe. Er war der wichtigste Kopf der republikanischen Zirkel zur Unterstützung der amerikanischen Freiheitsbewegung.

Bonn war eine Nische der Humanisten, weil der Bruder des österreichischen Reformkaisers Josef II., Maximilian Franz, zum Herrscher in Köln und Bonn ernannt worden war. Maximilian Franz teilte die aufklärerischen Gesinnung seines Bruders, der die Aufhebung von Leibeigenschaft, Folter und Todesstrafe durchsetzte und ein Toleranzedikt für die Juden erließ. Sein wichtigstes Anliegen war die Bildung seiner Untertanen, was Musikern wie Josef Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart zu Gute kam. So wurde in Bonn die Errichtung eines Nationaltheaters möglich, wo u. a. Schillers „Don Carlos“ zur Aufführung kam.

In einer öffentlichen Bibliothek, die „Lese“ genannt, konnten ohne Standesunterschied einfache Bürger, Theologen, Handwerker und Adelige über Verfassungsfragen diskutieren wie auch über die Fragen: Ist der Bürger für den Staat oder Staat für den Bürger da? Ist der Charakter angeboren oder erziehbar?

Beethoven nahm an diesen Debatten Teil, und es sollte nicht als Prahlerei verstanden werden, wenn er in einem Brief an seinen Verleger schreibt:

„Es gibt keine Abhandlung, die zu gelehrt für mich wäre – ohne auch im mindesten Anspruch auf Gelehrtheit zu machen, da ich von Kindheit an bestrebt war, den Sinn der Besseren und Weisen jedes Zeitalters zu erfassen.
Schande für einen Künstler, der es nicht für schuldig hält, es hierin wenigstens soweit zu bringen.“

Der plötzliche Tod des Reformkaisers Josef II. 1790 schockierte alle Humanisten.

Beethoven wurde ausersehen, eine Trauerkantate zu schreiben, um die Vergänglichkeit alles Menschlichen musikalisch zu fassen. Würde er einen Trauermarsch komponieren? Er entschied sich stattdessen, die unvergängliche Tätigkeit des Kaisers zu loben. Er wählte dazu ein Motiv, das er Jahrzehnte später in seiner Oper Fidelio wieder aufgreifen wird.

Die Arie:„Da stiegen die Menschen ans Licht“ aus der Trauerkantate beginnt mit dem Text:

„Da stiegen die Menschen ans Licht.
Da drehte sich glücklicher die Erd um die Sonne.
Und die Sonne wärmte mit Strahlen der Gottheit.“

Beethoven zog von Bonn nach Wien, da er sich von Josef Haydn, dem europäischen Meister, in der Kompositionskunst weiter ausbilden lassen wollte. Bald war er ein geliebter Gast der Wiener Hocharistokratie, die in ihren Salons die Musik pflegte.

Dort war er sozusagen auf Du mit den Fürsten Lichnowsky, Lobkowitz und Rasumovsky, die ihn bewunderten und den Standesunterschied in den Hintergrund treten ließen. Dennoch waren die kastenähnlichen Unterschiede unüberwindlich. Beethovens Heiratswünsche scheiterten daran. Seltener wurde aus Liebe geheiratet, sondern die Ehe wurde entsprechend des Standes arrangiert. Der zukünftige Ehemann konnte ein geistloser Pinsel sein, wenn er nur den richtigen Stammbaum besaß.

Es war noch ein weiter Weg bis zum „seid umschlungen Millionen“.

Beethoven schrieb in seinem Tagebuch: „Es gibt nichts Kleineres als die Großen, die Erzherzöge ausgenommen.“ Er meinte damit Erzherzog Rudolf, den Bruder der Kaisers, der sein Kompositionsschüler war.

Fidelio

Aber seine republikanische Gesinnung drängte ihn, das Volk ästhetisch zu verbessern. Deshalb organisierte er Akademiekonzerte für Jedermann auf eigene Rechnung.

Welch besseren Helfer konnte er finden als den Freiheitsdichter F. Schiller? „Aber Schillers Dichtungen sind für die Musik äußerst schwierig“, schrieb er. „Der Tondichter muß sich weit über den Dichter erheben, und wer kann das bei Schiller?“ Selbst inmitten der Komposition der 9. Sinfonie klagte er, es gäbe enorme Schwierigkeiten, Schiller zu vertonen.

Allen Reform- und Bildungsanstrengungen zum Trotz erstickten die feudalen Kräfte ab 1802 die Freiheitsbewegungen und förderten im Gegensatz zu Beethoven die banale Unterhaltung durch Tanzmusik und seichte Opern.

Beethoven wagte es, aus dem Gefängnis der Reaktion auszubrechen, und brachte mit seiner Oper „Fidelio“ Ideen der amerikanischen Revolution auf die Bühne.

Sie handelt von dem Helden der amerikanischen Revolution, dem Franzosen General Lafayette, Adjudant von George Washington in Amerika, der die amerikanischen Siedler zum Sieg über England führte.

Szene aus Beethovens Oper Fidelio: Leonore schützt ihren Gatten Florestan vor dessen Mörder Don Pizarro.
Szene aus Beethovens Oper Fidelio: Leonore schützt ihren Gatten Florestan vor dessen Mörder Don Pizarro.

Aus Rache ließen ihn die Briten mit Hilfe ihrer Freunde auf dem Kontinent verhaften und in Österreich einkerkern. Der mutige Kampf seiner Frau Leonore rettete ihm das Leben.

Der Operntext erzeugte einen Skandal, und die Aufführung wurde verboten. Nur eine Petition seiner humanistischen Freunde konnte die Sperre aufheben.

Aber Beethovens eigentliches Interesse galt nicht dem gefangenen Helden, sondern der weiblichen Tugend. Leonores kompromißlose Liebe zu Gerechtigkeit fürchtete weder Aristokratie noch Tod. Dieses Frauenbild war revolutionär, lange vor Alice Schwarzer. Nicht zufällig fügte Beethoven Schillers Text aus der „Ode an die Freude“ „Wer ein holdes Weib errungen“ in seine Oper ein.

Die Taubheit

Aber die härteste Prüfung stand Beethoven noch bevor: seine Ertaubung. Keine medizinische Verordnung noch die Wasserkuren konnten den Verlust seines Gehörs aufhalten. Für einen Musiker bedeutete dies die existentielle Vernichtung. Dadurch war er von aller gesellschaftlichen Unterhaltung abgeschnitten, isoliert und ohne Aussicht, seine Kompositionen selbst hören zu können. Sein „Heiligenstätter Testament“ offenbart seine Verzweiflung:

„Oh ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet! Wie Unrecht tut ihr mir […] mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten, dazu war ich immer aufgelegt […] welche Demütigung, wenn jemand neben mir stand und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte […] solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben – nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück …“

Was hält ihn am Leben und was meint er mit Kunst? Was kann so mächtig sein, mächtiger als sein Unglück? Die Freude des Hörens hatte er verloren, aber die Freude an der Schöpferkraft, die ihn mit Gottes Schöpferkraft verband, behielt er. Er nahm die Mission an, weiterhin mit seiner Kunst den kreativen Funken in anderen Menschen zu erwecken.

Warum haben wir diesen Geist verloren? Hierzu muß ich Sie mit dem Soziologen Theodor Adorno (1903–1969) bekannt machen. Seine Rolle als Kunstpapst wurde von den Besatzungsmächten geschaffen, um das Gute, das den Menschen zu seinen Fortschritten antreibt, zu vergiften.

Sie finden keine Universität, keinen Musikschriftsteller, der nicht Adorno huldigt. Dabei arbeitete Adorno für die CIA und hätte früher als Polizeispitzel gegolten. Bereits 1940 schrieb er einen Aufsatz im amerikanischen Exil: „Hitler und die 9. Sinfonie Beethovens“. Darin verriß er den 4. Satz mit der „Ode an die Freude“ und nannte sie „Volksreden an die Menschheit“. Es sei ein „Hinaufschrauben aller Stimmen, fast bis zum Geschrei“.

Die britisch-amerikanische Besatzungsstruktur förderte die „Frankfurter Schule“ von Adorno mit Hilfe des „Kongresses für kulturelle Freiheit“, eines Ablegers der CIA. Eine harmonische Gesellschaft sollte zerhackt und grundsätzlich eine harmonische Ordnung bekämpft werden.

Ziel war es, einer Gesellschaft den optimistischen Tatendrang zu rauben, die eine Renaissance hervorbringen kann, um die gemeinsamen Ziele der Menschheit zu verwirklichen.

Der Fall des Kommunismus 1989 begeisterte dagegen die meisten Menschen so sehr, die Freiheit wiedergewonnen und die Spaltung Europas aufgehoben zu haben, daß der 4. Satz der 9. Sinfonie Beethovens mit Schillers „Ode an die Freude“ die Konzertsäle erfüllte. So drückten viele ihre Begeisterung über die Umwälzung und ihre aktive Rolle in der Weltgeschichte aus.

Schillers und Beethovens Sicht der Rolle des Menschen in der Geschichte hat sich bis heute bestätigt. Präsident Lula und die Staatschefs der BRICS-Staaten versuchen heute, eine Verbesserung der Menschheit einzuleiten.

30 Jahre lang hatte Beethoven versucht, Schillers Ode an die Freude in Töne zu fassen, aber sie wollte „nicht aufs Papier“. Beethoven entscheidet sich für eine Verdichtung und wählt drei Ideen des Gedichtes aus: Freude, Verbrüderung und Andacht an den Schöpfer:

  1. „Freude schöner Götterfunken“,
  2. „seid umschlungen Millionen“,
  3. „ahnest Du den Schöpfer, Welt?“

Er feiert die Freude als ein Geschenk des Himmels, das denen zuteil wird, die zur Menschheitsverbrüderung beitragen.