Kues, Humboldt, LaRouche und das Koinzidenzdenken

Nikolaus von Kues, Vordenker des „Zusammenfalls der Gegensätze“

Nikolaus von Kues (1401-1464). Zeitgenössisches Stifterbild vom Hochaltar der Kapelle des St.-Nikolaus-Hospitals, Bernkastel-Kues, Ausschnitt.

Im Sommer 2020 gründeten Dr. Joycelin Elders, ehemalige Surgeon General der Vereinigten Staaten (oberste US-Gesundheitsbehörde), und die Gründerin und Präsidentin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, vor dem Hintergrund der weltweiten Coronavirus- und Hungerpandemie das Komitee für den Zusammenfall der Gegensätze. Dieser Begriff für den Namen des Komitees entstammt den Schriften des Renaissancekardinals Nikolaus von Kues (u. a. seiner De Docta Ignorantia; deutsch: Von der Belehrten Unwissenheit((Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit, Hamburg: Felix Meiner, 1970. Im Cusanus-Portal der Universität Trier: https://urts99.uni-trier.de/cusanus/content/fw.php?werk=13&ln=dupre&dupre_fw=1))) und stellt laut Gründungsdokument des Komitees die intellektuelle Herangehensweise dar, die notwendig sei, um die Krisen der Gegenwart zu überwinden und die Menschheit weiter voranzubringen:

„Dieses Denken des Ineinsfallens der Gegensätze ist die Methode, die wir heute für die Lösung der die ganze Menschheit bedrohenden Krise anwenden müssen. Wir müssen einen Ausweg definieren, der die existentiellen Bedürfnisse aller betroffenen Menschen und Interessengruppen gleichermaßen erfüllt. Konkret auf die Pandemie bezogen, läßt sich dieser Ansatz sehr wohl anwenden.“((Das Komitee für die Coincidentia Oppositorum: https://schillerinstitute.com/de/blog/2021/04/11/das-komitee-fuer-die-coincidentia-oppositorum-2/))

Seit der Gründung vor rund einem Jahr haben sich Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, philosophischer Ausrichtung und politischer Überzeugung in dem Komitee zusammengefunden, um die bedrohlichen Krisen der Gegenwart zu lösen. Die verschiedenen Initiativen werden auf der Webseite des Schiller-Instituts veröffentlicht.((Die Arbeit des Komitees für die Coincidentia Oppositorum: https://schillerinstitute.com/de/the-committee-for-the-coincidence-of-opposites/)) Darüber hinaus wurde das Konzept bei mehreren Konferenzen präsentiert, die das Schiller-Institut in den letzten zwölf Monaten online veranstaltet hat.((Internationale Konferenzen des Schiller-Instituts: https://schillerinstitute.com/de/international-conferences/)) Helga Zepp-LaRouche betonte dabei wiederholt, daß die von Kues entwickelte Denkmethode auf alle Konflikte angewandt werden könne.((Helga Zepp-LaRouche, Die revolutionäre Denkmethode des Nikolaus von Kues))

Nicht ohne Grund hatte ihr Ehemann Lyndon LaRouche immer darauf bestanden, daß Nikolaus von Kues sowohl der Begründer der modernen Wissenschaft als auch der neuzeitlichen Staatskunst ist. Die Entdeckung und Formulierung der Denkmethode des Zusammenfalls der Gegensätze war eine entscheidende Grundlage für viele nachfolgenden Entdeckungen von Kepler, Leibniz, Gauß, Wernadskij und anderen, sowie für die Weiterentwicklung der Kultur, wie sie in der angewandten Denkmethode Friedrich Schillers oder Wilhelm von Humboldts zum Ausdruck kommt.

Was entdeckte Kues nun aber konkret?

Sein Ziel war es keineswegs, lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner unterschiedlicher Standpunkte herauszufinden. Es teilte also nicht die in heutigen Liberalen- und Antroposophenkreisen vertretene These, man müsse sich lediglich auf einen Punkt der Übereinstimmung einigen, um die Punkte des Nichtübereinstimmens mit einem Lächeln zu ignorieren.

Ich möchte hier kurz auf zwei Beispiele seiner Denkmethode eingehen, bevor ich meine Aufmerksamkeit auf Wilhelm von Humboldt richte.

In seiner De Docta Ignorantia beschreibt Kues in sehr pädagogischer, jedoch auch provozierender Art und Weise, wie sich der Mensch selbst zu stets neuen Erkenntnissen und höheren Ebenen des Denkens und Erkennens vorantreiben kann. Kues nutzt geometrische Beispiele, um diesen Prozeß zu verdeutlichen. Ausgehend von geometrischen Figuren soll sich der Leser dem Absoluten nähern. Er benutzt dazu das regelmäßige Dreieck und das Quadrat, die jeweils in einen Kreis einbeschrieben werden können. Dem Kreis an sich kommt bei seinen Überlegungen im weiteren Verlauf eine besondere Bedeutung zu (Abbildung 1).

Abbildung 1. Beispiel für ein in einen Kreis einbeschriebenes regelmäßiges Dreieck.

Die Herangehensweise erfolgt in drei Schritten:

  1. Betrachtung der endlichen geometrischen Figuren mit ihren Eigenschaften.
  2. Die Eigenschaften der endlichen geometrischen Figuren werden auf unendliche Figuren übertragen.
  3. Alles Figürliche (Geometrie) wird aufgelöst, und es bleibt nur das unendlich Einfache übrig.

Dieses Unendliche – das Absolute – zu begreifen, liegt nicht in den Fähigkeiten der menschlichen Natur; der Mensch kann sich jedoch durch fortschreitende Erkenntnisse und Entdeckungen dem Unendlichen immer weiter annähern und lernt dabei, daß er nichts über das Eine, Absolute, Unendliche weiß, d. h., er wird in seiner Unwissenheit belehrt.

Kues fährt mit der Hypothese fort, man könne sich das Eine, Absolute, Unendliche als eine unendliche Gerade vorstellen, die zugleich auch ein Kreis und eine Kugel sei. Demnach fallen im Unendlichen die Gegensätze von gerade und krumm sowie die verschiedenen Dimensionen der Geometrie zusammen.

Der erste Beweis folgt: das Absolute sei eine unendliche Gerade, die auch der Ursprung jeglicher Krümmung ist. Hält man sich an die oben beschriebenen drei Schritte, so kommt man zu folgendem Ergebnis: Man stelle sich einen Kreis vor (1) und übertrage nun dessen Eigenschaften auf einen unendlichen Kreis (2). Siehe dazu auch Abbildung 2.

Abbildung 2.

„Wenn nun die Krümmung der gekrümmten Linie umso geringer wird, je größer der Kreis wird, dessen Umfang sie ist, dann ist der Umfang des größtmöglichen Kreises am wenigsten gekrümmt, also vollständig gerade. Das Kleinste fällt also mit dem Größten zusammen (kleinste Krümmung mit der größten Geradheit), so daß es geradezu augenscheinlich notwendig erscheint, daß die größte Linie im höchsten Maße gerade und im geringsten Maße gekrümmt ist.“((Nikolaus von Kues, a. a. O., Bd. 1, S. 49.))

Je größer der Kreis wird, desto gerader wird sein Umfang. Es sollte dem Leser jetzt nicht mehr schwerfallen, sich vorzustellen, daß der unendliche Kreis einen geraden Umfang hat, d. h., daß die unendliche Linie zwangsläufig eine Gerade sein muß; d. h. im Unendlichen ist gerade krumm. Zu dieser Erkenntnis kommt man aber nur, wenn man sich von der Sinnesgewißheit verabschiedet, denn auf einem Blatt Papier ist eine Gerade nun mal nicht krumm, auf der Ebene der Sinneswahrnehmung sind gerade und krumm nicht miteinander zu vereinen. Den Sprung auf die neue Ebene kann man in Abbildung 2 zwischen der scheinbar letzten gekrümmten Linie und der Geraden erkennen: im Geiste sieht dies einerseits wie ein fließender Übergang aus, jedoch sind im Rahmen der euklidischen Geometrie das Gerade und das Krumme nicht miteinander vereinbar. Nur auf der Basis einer höheren Ebene kann dieser scheinbare Widerspruch aufgehoben werden.

Genauso wenig kann auf der Ebene der Sinneswahrnehmung ein neues Paradigma geschaffen werden, weil sich auf dieser Ebene die Gegensätze nicht oder nicht hinreichend auflösen lassen..

In der Einleitung zu seiner De Docta Ignorantia schreibt Kues, es gehöre zur Natur des Menschen, nach Vollkommenheit zu streben:

„Es scheint mir daher sinnvoll, daß das Staunen, das zum Philosophieren hinführt, dem Drang nach Wissen vorangeht, damit der Geist, dessen Sein im Erkennen liegt, sich im Studium der Wahrheit vollende.“((Nikolaus von Kues, a. a. O., S. 253 ff.))

Dieses Konzept findet man explizit u. a. in den Schriften von Johannes Kepler, Wilhelm von Humboldt und Lyndon LaRouche. Es ist leider notwendig, dem, was eigentlich offensichtlich erscheint, eine kleine Randbemerkung hinzuzufügen: Die Denkmethode des Zusammenfalls der Gegensätze, genauso wie das Staunen und Philosophieren und das Streben nach Erkenntnis, ist allen Menschen gleich. Der menschliche Geist funktioniert universell gleich, unabhängig vom Geburtsort dieses Menschen. Johannes Kepler schreibt in seinem Mysterium Cosmographicum, es gebe eine Anlage in der menschlichen Seele, die bestimmte Formen und Proportionen als Urbilder gespeichert habe. Wenn der Mensch demnach die Natur und den Sternenhimmel betrachte, finde er die in seiner Seele gespeicherten Proportionen wieder und könne auch Dissonanzen – nichtproportionale Beziehungen – als störend erkennen. Kepler nennt dies die „untermondische“ Natur des Menschen. Lyndon LaRouche entwickelte dieses Konzept weiter. So sprach er stets davon, daß die grundlegende Fähigkeit des Menschen, universelle Entdeckungen auf immer höherer Ebene zu machen, nicht nur jene Eigenschaft des menschlichen Geistes ist, die uns von den Tieren unterscheidet, sondern daß sie darüber hinaus ein Grundprinzip des Universums darstellt. Dieser Denkweise zufolge spiegeln sich die Denkprozesse des menschlichen Geistes im Universum wider und umgekehrt.((Siehe auch: Madeleine Fellauer, „Die gemeinsamen Ziele der Menschheit – die Einheit in der Vielfalt“, Neue Solidarität, Nr. 41, 7. Oktober 2015. https://www.solidaritaet.com/neuesol/2015abo/41/einheit.htm))

Grab des Nikolaus von Kues in der Kirche San Pietro in Vincoli, Rom.

Der Leser kann sich nun die Frage stellen, ob diese Ansichten über den Menschen und seine Seele oder das Universum das zugrundeliegende Menschenbild unserer gegenwärtigen Gesellschaft darstellen. Das Staunen, das zur Erkenntnis führt? Was passiert im Laufe der kindlichen Entwicklung mit der menschlichen Neugier nach Entdeckungen? Wird diese Neugier in unserem Bildungssystem befriedigt und weiterentwickelt? Geht unser Bildungssystem davon aus, daß jede Seele ein Ebenbild universeller Prozesse ist, d. h. kann jedes Kind in allen Bereichen Entdeckungen machen? Geht unser Bildungssystem weiterhin davon aus, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Tier gibt?

Um das sogenannte Humboldtsche Bildungsmodell zu verstehen, ist es notwendig, Humboldt als einen Denker in der Tradition der Renaissance zu verstehen. Was war Humboldts Denkansatz und Menschenbild, das er seinen Bildungsreformen zugrunde legte?

Wilhelm von Humboldt – ein Cusaner?

Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Statue vor der Humboldt-Universität, Berlin. Quelle: Wikimedia Commons/Lestat

Die in diesem Artikel als Grundlage dienenden zwei Schriften Wilhelm von Humboldts spiegeln den von Kues wissenschaftlich als Denkmethode etablierten Zusammenfall der Gegensätze ebenfalls wider. Humboldts Denkansatz ist es, nominell eine Definition für die richtige Herangehensweise an den Ursprung und die Verbreitung der Sprachen und damit der Sprachwissenschaft insgesamt zu entwickeln. Im Kern geht es ihm aber immer wieder um die Frage, was den menschlichen Geist, bzw. die Seele des Menschen ausmacht.

Nach und nach kristallisiert Humboldt verschiedene Wechselwirkungen heraus, die auf der Ebene der bloßen Betrachtung mittels der Sinneswahrnehmung als Widersprüche oder Gegensätze (antagonistische Gegenspieler) wahrgenommen werden (können). Um das Denken Humboldts und sein Menschenbild verständlicher zu machen, werde ich auf einige dieser Wechselwirkungen ein besonderes Augenmerk legen.

Scheinbare Gegensätze werden von Humboldt im Laufe seiner Erörterungen aufgehoben (siehe Abbildung 3).

„Die Verteilung des Menschengeschlechts in Völker und Völkerstämme und die Verschiedenheit seiner Sprachen und Mundarten hängen zwar unmittelbar miteinander zusammen, stehen aber auch in Verbindung und unter Abhängigkeit einer dritten, höheren Erscheinung, der Erzeugung menschlicher Geisteskraft in immer neuer und oft gesteigerter Gestaltung. Sie finden darin ihre Würdigung, aber auch, soweit die Forschung in sie einzudringen und ihren Zusammenhang zu fassen vermag, ihre Erklärung. Diese in dem Laufe der Jahrtausende und in dem Umfange des Erdkreises, dem Grade und der Art nach, verschiedenartige Offenbarwerdung der menschlichen Geisteskraft ist das höchste Ziel aller geistigen Bewegung, die letzte Idee, welche die Weltgeschichte klar aus sich hervorgehen zu lassen streben muß.“((Wilhelm von Humboldt, „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, in: Werke in fünf Bänden. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1963. Bd. 3, S. 382 ff.))

Laut Wilhelm von Humboldt sind demnach die verschiedenen Völker und ihre jeweiligen Sprachen in zweifacher Hinsicht miteinander verbunden bzw. verwandt: zum einen durch den historischen Entstehungsprozeß, zum anderen durch eine dritte Kraft, wobei diese Geisteskraft als Ursache der Verwandtschaften der Sprachen angesehen werden kann. Beim Konzept des Zusammenfalls der Gegensätze kann aber auf derjenigen Ebene, auf der der Widerspruch erscheint, der Zusammenhang bzw. der Zusammenfall nicht erkannt werden. Dies ist nur auf einer höheren Stufe möglich.

Abbildung 3.

Humboldt beschreibt die Erzeugung menschlicher Geisteskraft als dritte Kraft, die dementsprechend nicht auf der Ebene der Sprachen an sich anzutreffen sei. Die Offenbarungen der mannigfaltigen Sprachkulturen auf immer höherer Ebene seien der verschiedenartige Ausdruck der Geisteskraft, die allen Menschen eigen sei, und stellten auch das höchste Ziel jeglicher menschlicher Aktivität dar. Daß in den verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte eine Reihe von Konzepten über den Menschen und das Universum in verschiedenen kultur- bzw. sprachspezifischen Ausprägungen scheinbar unabhängig voneinander aufgefunden werden, kann durch diese universelle Geisteskraft erklärt werden. Humboldt schreibt weiter, daß die Erhöhung der inneren Geisteskraft, des inneren Daseins, das Einzige sei, was das Individuum als sein Eigentum ansehen könne und dies trage dazu bei, daß sich in der Nation weitere Individualitäten (Individuen) entwickeln könnten. Demnach schaffen wir es durch unsere geistige Weiterentwicklung sowie durch die darauf aufbauende Weiterentwicklung unserer Fähigkeiten, Ideen und Konzepte zu kommunizieren, die den kommenden Generationen als Grundlage für die Weiterentwicklung sowohl ihrer Individuen als auch der gesamten Nation dienen. Somit trägt die Sprache zur Gestaltung der nationalen Geisteskraft und Identität bei.

Humboldt gibt der Sprache eine doppelte Funktion:

  1. Sprache zur Gestaltung der nationalen Geisteskraft und
  2. „Die Sprache auf der anderen Seite ist das Organ des inneren Seins, dies Sein selbst, wie es nach und nach zur inneren Erkenntnis und zur Äußerung gelangt.“

Dies bedeutet, daß die Sprache das Mittel darstellt, um das innere Sein, die Vorgänge der Seele und der Geisteskraft zum Ausdruck zu bringen und weiterzugeben.

Er schreibt weiter, daß in der ersten primitiven Entwicklung des Menschengeschlechts die Sprache als erste notwendige Stufe zur Bildung der Nation erkannt werden könne und betont dabei:

„Sie [die Sprachen] wachsen auf gleich bedingte Weise mit der Geisteskraft empor und bilden zugleich das belebend anregende Princip derselben. Beides aber geht nicht nacheinander und abgesondert vor sich, sondern ist durchaus und unzertrennlich dieselbe Handlung des intellektuellen Vermögens.“

Hier beschreibt Humboldt eine Wechselwirkung zwischen Geisteskraft und Sprachentwicklung; die Sprache entwickelt sich demnach mit der Entwicklung der Geisteskraft empor, nicht nacheinander oder antagonistisch, sondern sich gegenseitig begünstigend und aufeinander zurückwirkend; beides sind also Handlungen des Intellekts. Er führt eben diese Wechselwirkung folgendermaßen weiter aus:

„Indem ein Volk der Weiterentwicklung seiner Sprache, als des Werkzeuges jeder menschlichen Tätigkeit in ihm, aus seinem Inneren Freiheit erschafft, sucht und erreicht es zugleich die Sache selbst, als etwas anderes und Höheres; und indem es auf dem Wege dichterischer Schöpfung und grübelnder Ahndung dahin gelangt, wirkt es zugleich wieder auf die Sprache zurück.“((Humboldt, a. a. O., S. 414.))

Auf dem Wege der dichterischen Schöpfung und der grübelnden Ahndung (Staunen, Neugier) erschafft der Mensch seinem Inneren Freiheit, gelangt zu etwas anderem und Höheren (der Sache selbst, der Erkenntnis), und das wiederum wirkt auf die Sprachentwicklung zurück. Die Sprache ist das Werkzeug, um den inneren Geisteskräften Freiheit zu verschaffen.

Sehr schön faßt Humboldt dies in den folgenden zwei Sätzen zusammen: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken.“ Und weiter: „Die Sprache ist das bildende Organ der Gedanken.“

Zum einen unterstreichen diese Aussagen noch einmal, daß trotz der Wechselwirkung zwischen Geisteskraft und Sprachentwicklung beide identisch sind, was aber wiederum bedeutet, daß das Niveau der Sprache eines Landes auch Aufschluß über dessen Geisteszustand geben kann. Eine Gesellschaft, die in binären Codes, Stenographie und Emojis im SMS-Stil miteinander kommuniziert, wird wohl kaum in der Lage sein, eine neue Generation von Beethovens oder Weltraumwissenschaftlern heranzuziehen.

Diese Eigenschaft der menschlichen Seele, Gedanken zu veräußern und dadurch Entdeckungen und Ideen weiterzugeben, werden Leser, die mit den Werken Lyndon LaRouches vertraut sind, des öfteren in dem von LaRouche definierten Begriff Handlungsprinzip (principle in action) wiederfinden. Die entdeckten Prinzipien werden durch die Kommunikation und Weiterverbreitung in der Gesellschaft sozusagen lebendig. Zum einen folgt das Individuum seinem innewohnenden Drang, seine eigene Geisteskraft zu erweitern und sich auch dementsprechend mitzuteilen, zum anderen trägt der Mitteilungsdrang dazu bei, daß die ganze Nation (und auch andere) von dem entdeckten Prinzip profitieren und es für alle greifbar und anwendbar wird. Ein Beispiel hierfür ist das von Gottfried Wilhelm Leibniz entdeckte Prinzip des geringsten Widerstands (least action), das die Rotationsbewegung als eine der wirksamsten und effizientesten Bewegungsformen im Universum definiert. Dieses Prinzip spielt seit seiner Entdeckung nach wie vor eine entscheidende Rolle im Bereich des Maschinenbaus, ist lebendig und hat Leibniz unsterblich gemacht. Lyndon LaRouche widmet deshalb der Idee, Wissen zum Leben zu erwecken, ein Kapitel in seinem Buch Der Dialog eurasischer Zivilisationen – Die kommenden 50 Jahre der Erde.((Lyndon H. LaRouche jr., Die nächsten 50 Jahre der Erde https://shop.eir.de/produkt/e-book-mobi-der-dialog-eurasischer-zivilisationen/))

In seinem Aufsatz Theorie der Bildung des Menschen((Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Bildung. Stuttgart. Reclam 2017.)) beschreibt Wilhelm von Humboldt im weiteren Verlauf die Wechselwirkung zwischen der inneren Geisteskraft und dem Universum. Da die bloße Kraft (der Geist) einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben kann, und die bloße Form (der reine Gedanke) einen Stoff braucht, in dem sie in Erscheinung treten und fortdauern kann, so bedarf der Mensch ebenfalls einer Außenwelt.

„Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntniß und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne daß er sich selbst deutlich dessen bewußt ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser außer sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung der innern Unruhe, die ihn verzehrt. … Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-Mensch, d.i. Welt zu sein, sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“((Wilhelm von Humboldt a. a. O., S. 6 ff.))

Die Vorstellungskraft als drittes Element schlägt die Brücke zwischen der Welt (materiell) und der Geisteskraft (immateriell) und hilft dem Menschen, die den Sinnen präsentierten materiellen Objekte zu bearbeiten.

Man könnte auch sagen, daß die Ideenwelt sich durch Bearbeitung der realen Welt materialisiert, daß die materielle Welt durch den Einfluß der immateriellen verändert wird, oder wie LaRouche es ausdrücken würde: Ideen verändern die physische Realität.

Humboldt schreibt weiter:

„Die letzte Aufgabe unsres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Diese allein ist nun auch der eigentliche Maßstab zur Beurtheilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntnis. Denn nur diejenige Bahn kann in jedem die richtige sein, auf welcher das Auge ein unverrücktes Fortschreiten bis zu diesem letzten Ziele zu verfolgen im Stande ist, und hier allein darf das Geheimnis gesucht werden, das, was sonst ewig tot und unnütz bleibt, zu beleben und zu befruchten.“

Die von Humboldt beschriebene Wechselwirkung zwischen dem Inneren und Äußeren (der Seele und dem Universum, der physischen Realität) hinterläßt über die Lebenszeit des einzelnen Menschen hinaus seine individuellen Fußabdrücke für die Nachwelt. Das, was man als Mensch der Nachwelt hinterläßt, ist der Maßstab jeglicher Beurteilung menschlicher Erkenntnis, d. h. wenn Entdeckungen über Generationen hinweg in einer Gesellschaft weitergegeben und angewandt und damit zu unsterblichen Entdeckungen werden, sind sie der Maßstab wirklichen Wissens. Und umgekehrt: Wahres Wissen sind unsterbliche Ideen.

Bei der Wahrnehmung der materiellen Welt durch den menschlichen Geist geht es aber nicht so sehr darum, einen Gegenstand, wie z. B. eine Blume zu betrachten, sondern um die Vorstellungskraft. Denn „…[N]ur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas…“ verbinden sich die Welt und das innere Sein, d. h. der Welt wird eine individuelle Komponente aufgedrückt. Durch die Nutzung von Metaphern, die der Vorstellungskraft entspringen, fügt der Betrachter dem Betrachteten eine doppelte oder dreifache Bedeutung hinzu.

Man sieht das z. B. in Goethes Gedichten Das Veilchen und Heidenröslein. Da ist ein Veilchen, aber dieses Blümchen wollte, „ach, nur ein kleines Weilchen“, am Herzen der Geliebten sein; es starb jedoch, weil es achtlos von der Geliebten zertrampelt wurde. Man denkt wie Goethe: „Es war ein herzigs Veilchen“. Oder das Heidenröslein, das ebenfalls sterben mußte, weil es sich dem Knaben zur Wehr setzte.

„Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden. …“

Es ist der Vorstellungskraft des Lesers überlassen, zu ergründen, warum Blümchen bei Goethe totgetrampelt oder durch Abrupfen umgebracht werden. Zumindest wird der Punkt der Metapher deutlich: Die Blume ist bei Goethe nicht nur eine Blume.

Friedrich Schiller, Wilhelm und Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe in Jena, circa 1797.

Zurück zu Humboldt. In seinem Buch Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts((S. Anm. 9.)) schreibt er, die Sprache diene mit der Bildung von Begriffen und der Verknüpfung von Gedanken in Sätzen der „inneren Vollendung des Gedankens“ und dem „äußeren Verständnis“. Auch hier sieht man wieder die Doppelwirkung zwischen den inneren geistigen Vorgängen und der äußeren Welt. Er führt weiter aus:

„Gewissermaßen unabhängig hiervon bildet sich in ihr zugleich ein künstlerisch schaffendes Prinzip aus, das ganz eigentlich ihr selbst angehört [der Sprache inhärent ist, Anm. d. Red.]. Denn die Begriffe werden in ihr von Tönen getragen, und der Zusammenklang aller geistigen Kräfte verbindet sich also mit einem musikalischen Element, das, in sie eintretend, seine Natur nicht aufgiebt, sondern nur modificirt. Die künstlerische Schönheit der Sprache wird ihr daher nicht als ein zufälliger Schmuck verliehen, sie ist, gerade im Gegentheil, eine in sich nothwendige Folge ihres übrigen Wesens, ein untrüglicher Prüfstein ihrer inneren und allgemeinen Vollendung. Denn die innere Arbeit des Geistes hat sich erst dann auf die kühnste Höhe geschwungen, wenn das Schönheitsgefühl seine Klarheit darüber ausgießt.((S. Anm. 9, S. 477.))

Wenn sich die Schönheit über das Geäußerte ergießt, hat sich der menschliche Geist in kühnste Höhen emporgeschwungen. D. h. Poesie, Metaphern und Musik sind notwendig, um erfolgreich universelle Prinzipien erkennen und kommunizieren zu können. Die Sprachentwicklung steht dabei vor der Herausforderung, nicht nur einzelne Erscheinungen greifbar zu machen, sondern eine unbestimmbare Anzahl an Erscheinungen, d. h. alles Denkbare, das unbegrenzt einem begrenzten Sprachbau gegenübersteht, zum Ausdruck zu bringen.

Vorher führte Humboldt aus:

„Ohne die Sprache in ihren Lauten und noch weniger in ihren Formen und Gesetzen zu verändern, führt die Zeit durch wachsende Ideenentwickelung, gesteigerte Denkkraft und tiefer eindringendes Empfindungsvermögen oft in sie ein, was sie früher nicht besass. Es wird alsdann in dasselbe Gehäuse ein anderer Sinn gelegt, unter demselben Gepräge etwas Verschiedenes gegeben, nach den gleichen Verknüpfungsgesetzen ein anders abgestufter Ideengang angedeutet. Es ist dies eine beständige Frucht der Literatur eines Volkes, in dieser aber vorzüglich der Dichtung und Philosophie.“((S. Anm. 9, S. 472.))

Das heißt zum einen, daß der Wortschatz nicht zwingend an sich wächst (natürlich wächst er bei Kleinkindern, aber hier scheint es um Menschen mit abgeschlossener Sprachbildung zu gehen), sondern durch das Hinzufügen neuer Bedeutungen (begrenzt, unbegrenzt). Zum anderen wird mit zunehmender Weiterentwicklung der Geisteskräfte und durch ein größeres Verständnis der Umwelt sowie durch die Weiterentwicklung der Sprache die Fähigkeit verbessert, Ideen auf immer höherer Ebene zu übermitteln. Je mehr Menschen an diesem Kommunikationsprozeß teilhaben, desto mehr Ideen werden in einer Nation generiert und umgekehrt assimiliert.

Es sollte also die Absicht des Bildungssystems sein, die Ideendichte und Masse an Ideen pro Kopf zu steigern, Ideen zum Singen zu bringen und zum Schönheitsideal werden zu lassen.

„Es liegt hierin aber auch nothwendig, daß sie nach zwei Seiten hin ihre Wirkung zugleich ausübt, indem diese zunächst aus sich heraus auf das Gesprochene geht, dann aber auch zurück auf die sie erzeugenden Kräfte. Beide Wirkungen modificiren sich in jeder einzelnen Sprache durch die in ihr beobachtete Methode, und müssen daher bei der Darstellung und Beurtheilung dieser zusammengenommen werden.“((S. Anm. 9, S. 477.))

Humboldt beschreibt hier eine Wechselwirkung nach innen und außen; nach außen auf das Gesprochene und nach innen auf die erzeugenden Kräfte (Kreativität).

An mehreren Stellen unterstreicht Humboldt den Drang, sich zu äußern, als Grundeigenschaft der menschlichen Seele, sowie ihre Dominanz über die Funktionsweise der Sinnesorgane; d. h. er bezeichnet es als ureigene menschliche Natur, die Dichte an Ideen und Entdeckungen zu steigern und damit mittelbar auch die Bevölkerungsdichte anzuheben.

Der Drang, sich zu äußern, sei demnach stärker als die Sinnesorgane, dies könne man bei Taubstummen beobachten: ihre Sprachorgane funktionierten nicht, oder nicht ausreichend genug. Teilweise könnten sie die gesprochene Sprache nicht hören, würden es aber trotzdem lernen, sich zu äußern, weil ihre Seele den gleichen Drang habe wie die Seele der hörenden Menschen. (In diesem Zusammenhang sind einige Aspekte der Gegenwart relevant: erst mit Hilfe moderner Technologien, wie den Sprachcomputern, wurde es sprachunfähigen Kleinkindern ermöglicht, sich über Bildtafeln mitzuteilen. Mittels Augenbewegungen gesteuerter Computer, können vollständig gelähmte und damit auch sprachunfähige Menschen mit ihrem Umfeld in Kontakt treten.)

Die taubblinde Helen Keller (links) im Jahr 1899 mit ihrer Lebensgefährtin und Lehrerin Anne Sullivan. Sie konnte Dinge hören und sehen, wie wir sie nicht sehen und hören können.

Humboldt beschreibt diesen Drang auch, indem er die Lautbildung bei Kleinkindern mit derjenigen von Tieren vergleicht. Bei Kleinkindern würden aus den Lauten zunehmend wohlklingende Artikulationen werden (z. B. „ahhh“ → „mahhh“ → „Mama“), wohingegen es bei den Tieren bei Lauten bleibe, die auch nicht immer wohlklingend seien (Humboldt nennt es „Kreischen“). Er schreibt dies dem Umstand zu, daß die tierische Seele im Gegensatz zur menschlichen nicht den Drang nach Weiterentwicklung und Veräußerung der Seelenvorgänge habe. Natürlich sängen Vögel schön, aber in ihrem Gesang gebe es im Gegensatz zur menschlichen Sprachentwicklung keine Veränderung, sie könnten nicht anders als schön singen. Demgegenüber kann der Mensch, wenn er dem Drang seiner innewohnenden Geisteskraft folgt, durch fortschreitende Sprachentwicklung Schönheit durch Tonalität und Musikalität auf immer höheren Ebenen schaffen.

Bereits in der Einleitung seiner Schrift beschreibt Humboldt, vergleichbar mit Johannes Kepler und Lyndon LaRouche, die Fähigkeit der menschlichen Seele, Proportionen und Dissonanzen erkennen zu können:

„Die Natur entfaltet vor uns eine bunte und nach allen sinnlichen Eindrücken hin gestaltenreiche Mannigfaltigkeit, von lichtvoller Klarheit umstrahlt; unser Nachdenken entdeckt in ihr eine unsrer Geistesform zusagende Gesetzmäßigkeit; abgesondert von dem körperlichen Dasein der Dinge, hängt an ihren Umrissen, wie ein nur für den Menschen bestimmter Zauber, äußere Schönheit, in welcher die Gesetzmäßigkeit mit dem sinnlichen Stoff einen uns, indem wir von ihm ergriffen und hingerissen werden, doch unerklärbar bleibenden Bund eingeht.“

Humboldt fährt fort, der Bau der Sprachen sei mit den Gesetzen der Natur verwandt:

„Alles dies finden wir in analogen Anklängen in der Sprache wieder, und sie vermag es darzustellen. Denn indem wir an ihrer Hand in eine Welt von Lauten übergehen, verlassen wir nicht die uns wirklich umgebende. Mit der Gesetzmäßigkeit der Natur ist die ihres eignen Baues verwandt; und indem sie durch diesen den Menschen in der Thätigkeit seiner höchsten und menschlichsten Kräfte anregt, bringt sie ihn auch überhaupt dem Verständniß des formalen Eindrucks der Natur näher, da diese doch auch nur als eine Entwicklung geistiger Kräfte betrachtet werden kann.“((S. Anm. 9, S. 435 ff.))

Also steht der Bau der Sprachen auf zweierlei Weise in Beziehung zu Gesetzmäßigkeiten: Die des menschlichen Geistes und die der Natur.

Dadurch, daß die Natur den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie die Sprache unterliegt, ist die Sprache in der Lage, die Natur darzustellen; gleichzeitig wird durch die Wechselwirkung zwischen Sprache und Natur der menschliche Geist in seiner Tätigkeit angeregt und bringt ihn dem Verständnis der Natur näher.

Humboldt bezeichnet die Geisteskraft, die sich alle Sinne Untertan macht, als das eigentlich schaffende Prinzip (siehe Abbildung 4).

Humboldts schaffendes Prinzip.

„Die aus ihrer inneren Tiefe und Fülle in den Lauf der Weltbegebenheiten eingreifende Geisteskraft ist das wahrhaft schaffende Princip in dem verborgenen und gleichsam geheimnißvollen Entwicklungsgange der Menschheit […] Es ist die ausgezeichnete, den Begriff menschlicher Intellectualität erweiternde Geisteseigenthümlichkeit, welche unerwartet und in dem Tiefsten ihrer Erscheinung unerklärbar hervortritt. Sie unterscheidet sich besonders dadurch, daß ihre Werke nicht bloß Grundlagen werden, auf die man fortbauen kann, sondern zugleich den wieder entzündenden Hauch in sich tragen, der sie erzeugt. Sie pflanzen Leben fort, weil sie aus vollem Leben hervorgehn. Denn die sie hervorbringende Kraft wirkt mit der Spannung ihres ganzen Strebens und in ihrer vollen Einheit, zugleich aber wahrhaft schöpferisch, ihr eignes Erzeugen als ihr selbst unerklärliche Natur betrachtend; sie hat nicht bloß zufällig Neues ergriffen oder bloß an bereits Bekanntes angeknüpft.“

Wenn nun unser Geist die ihm „zusagenden Gesetzmäßigkeiten“ nicht willkürlich, sondern aufgrund entsprechender Gesetzmäßigkeiten zielstrebig erkennen kann – denn er „hat nicht bloß zufällig Neues ergriffen oder bloß an bereits Bekanntes angeknüpft“ – dann muß es ja im Geist eine Vorstellung oder Anlage ebenjener Gesetzmäßigkeiten geben, mit der die durch die Sinne wahrgenommen Gesetzmäßigkeiten verglichen und in Übereinstimmung stehend gefunden werden kann. Hierbei handelt es sich wie bereits oben beschrieben um ein Konzept, das Johannes Kepler als die „untermondische“ Natur des Menschen bezeichnet, also ein philosophisch-geisteswissenschaftlicher Ansatz, der sich in verschiedenen Kulturen wiederfindet.

Was Humboldt als „äußere Schönheit“ beschreibt, die scheinbar nur für den Menschen sichtbar ist, da sie für ihn bestimmt sei, ist der Prozeß der Entdeckung. Oder anders ausgedrückt: Wenn man alle sinnlichen Attribute eines Objektes entfernt, nähert man sich dem Prinzip an (man denke an Kues‘ drei Schritte, um vom Dreieck über das unendliche Dreieck zum Unendlichen zu gelangen). Durch den Prozeß des Entdeckens universeller Prinzipien eignet sich der Mensch Wissen an, das jenseits der Sinnesempfindung liegt und einen Bund zwischen Gesetzmäßigkeiten und der materiellen Welt schafft. Den gleichen Gedanken bringt Humboldt in seiner „Theorie der Bildung des Menschen“ zum Ausdruck, indem er dort schreibt, daß der Mensch durch die Bearbeitung des Stoffes (Objektes) diesem Stoff seine (menschliche/intellektuelle) Gestalt aufdrückt, d. h. den Stoff der Sinnenwelt entrückt und der immateriellen Welt des menschlichen Geistes näher bringt. Somit schafft er eine Verbindung zwischen Stoff und Geist.

Lyndon LaRouche zu Sprache und Bildung

In einem offenen Brief((Lyndon H. LaRouche jr., „Restore Classical Education to the secondary classroom“ (dt. „Stellen Sie klassische Bildung auf der Oberstufe wieder her“), EIR, Vol. 19, Nr. 34 und 35, 1992.)) von 1992 an Albert Shanker, dem damaligen Präsidenten des US-Lehrerverbandes schreibt Lyndon LaRouche:

„Es ist die Weitergabe und weitere Verbesserung des gesammelten Wissens, worauf die zunehmende Macht des Menschen über die Natur beruht, was richtigerweise als ,Kultur‘ bezeichnet wird. Kulturen unterscheiden sich voneinander erstens durch die Macht über die Natur pro Kopf, welche mit dem von einer Kultur geprägten Verhalten verbunden ist, und zweitens durch den Grad, in dem eine Kultur die Menschen zu mehr oder weniger großem Fortschritt in dieser Hinsicht anregt… Damit kommen wir zum Thema ‚Sprache‘ im weitesten Sinne. Kultur wird in der Kommunikation durch Sprache weitergegeben. Was als geäußerte Sprache kommuniziert wird, muß im Verhältnis mit der inneren Sprache des Individuums und seiner individuellen Wahrnehmungsprozesse der Natur und deren Übereinstimmung mit der Natur beurteilt werden. Die so definierte und in Bezug auf Natur und Kultur eingeordnete Sprache ist das Wesen des Wissens, der Gegenstand von Bildungsprozessen.“

Somit dient die Sprache als Mittel, Kultur zu kommunizieren. Zu der Kultur einer Nation gehören auch die wissenschaftlichen Entdeckungen, die ebenfalls über die Sprache, nicht nur an Zeitgenossen, sondern über Generationen hinweg, weitergegeben werden. Dies unterstreicht zum einen den Punkt von Humboldt, daß der Mensch die Umwelt (das Universum) in sich aufnimmt, zu seiner eigenen macht, weitergibt und seiner Konzeption durch das Weiterleben in der Gesellschaft zur Untersterblichkeit verhilft – was laut Humboldt das primäre Ziel der Menschheit darstellt. Zum anderen hebt Lyndon LaRouches zitierte Aussage aber auch hervor, daß es keine Trennung zwischen den sogenannten Geistes- und Naturwissenschaften gibt, sondern nur beide unzertrennlich vereint bilden die menschliche Kultur.

LaRouche schreibt weiter, daß klassische Kunst und Wissenschaft eine gemeinsame Basis teilen: die Basis der Geometrie. Er beschreibt hier drei Arten der Sprache:

  1. Die Sprache des Sehens,
  2. die Sprache des Hörens und
  3. die Sprache der wohltemperierten Polyphonie, die jene Sprache sei, bei der sich die ersten beiden überlappen.

Die Sprache des Sehens ist die synthetische Geometrie, wobei es hierbei nicht darum geht, geometrische Formen zu erkennen, sondern was sich hinter den Schatten der euklidischen Formen verbirgt: das reale Universum. Durch die Sprache der Geometrie wird die Natur anhand geometrischer Zuordnung wahrgenommen und der menschliche Geist in die Lage versetzt, diese geometrischen Formen zu erkennen, vom visuellen Beiwerk abzusondern und dahinter ein Ordnungsprinzip zu entdecken. Die Geometrie bildet u. a. die Basis für die mathematische Physik und die plastischen Künste. Die Sprache des Hörens ermöglicht das Erlernen von Fremdsprachen, wobei LaRouche betont, daß der Fremdsprachenunterricht in einer Einheit mit der Geometrie erfolgen sollte (wie es in Humboldts Bildungsplan vorgesehen war). LaRouche weiter:

„Die natürliche Verwandtschaft der Musik zu gesungener Poesie, wie bei den klassischen Griechen oder den Veden, stellt die Musik somit in den Bereich der Sprache des Hörens. Die harmonischen Prinzipien der Polyphonie und der polyphonen Entwicklung lokalisieren die Musik in den Bereich der Sprache des Sehens: der Geometrie. Diese Dualität räumt der wohltemperierten Polyphonie einen besonderen Platz unter den kulturellen Errungenschaften der Menschheit ein. In diesem Medium zelebriert die Menschheit die wesentlichen Merkmale all ihrer Potentiale.“

Die scheinbaren Gegensätze der Sprache des Sehens (harmonische Prinzipien der Komposition) und des Hörens (gesungene Poesie) lösen sich demnach auf der Ebene der klassischen Polyphonie auf.

Der Leser kann anhand der hier aufgeführten Beispiele aus den Werken von Nikolaus von Kues, Wilhelm von Humboldt und Lyndon LaRouche erkennen, daß Kues‘ wissenschaftliche bahnbrechende Entdeckung des Koinzidenzprinzips das wahre wissenschaftliche Denken über Jahrhunderte hinweg bestimmt hat. In den Werken von Lyndon LaRouche ist dieses Konzept am höchsten entwickelt.

Um LaRouches Ideen allen Menschen zugänglich zu machen, wurde die LaRouche Legacy Foundation  gegründet. Sie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, LaRouches Gesammelte Werke zu veröffentlichen und seine Methode in internationalen Seminaren zu verbreiten.